Radikalisierung. Farhad Khosrokhavar

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Radikalisierung - Farhad Khosrokhavar

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weltweiten Neo-Umma ins Leben gerufen. Die historische Entwicklung der muslimischen Gesellschaften wird im Begriff der Neo-Umma geleugnet, ihr Ursprung schlicht und einfach auf die Salaf (Gefährten des Propheten) zurückgeführt und in einer Form gepredigt, die Praktiken wie die Sklaverei wieder zum Leben erweckt: Die Jesiden im Irak werden versklavt und ihre Frauen und Töchter verkauft, das Gesetz der Vergeltung (qisas) und das Standrecht werden unter Berufung auf die vermeintliche Transparenz der islamischen Rechtsprechung wieder eingesetzt.

      Bedeutung und Tragweite des Begriffs der Radikalisierung

      Welche Prozesse bringen Einzelne dazu, sich extremistischen Gruppen anzuschließen? Wie kann man der Anziehungskraft radikaler Ideologien (in erster Linie des dschihadistischen Islam, aber auch gewaltträchtiger Weltbilder rechts- und linksextremer Provenienz) und vor allem dem begegnen, was man „hausgemachten“ Terrorismus (homegrown terrorism) oder Terrorismus von innen nennt? Ein Terrorismus also, dessen Keimzelle nicht in fernen Ländern (im Nahen und Mittleren Osten), sondern in Europa oder, seltener, in den Vereinigten Staaten, Australien oder Kanada liegt?

      Eine weitere Reihe von Fragen betrifft das Persönlichkeitsprofil derer, die den Weg der Radikalisierung einschlagen. Was sind die typischen Profile derjenigen, die dem Terrorismus neuerer Prägung in die Arme laufen? Wie bilden sich die einzelnen Gruppen, was stiftet ihren Zusammenhalt, was lässt sie zur Gewalttat schreiten? Wie und wo rekrutieren sie ihre Mitglieder? Welche Merkmale müssen sie aufweisen, um die Anhänger ihrer radikalen Auffassungen dazu zu bringen, sich aktiv an Anschlägen zu beteiligen? Kurzum: Wie werden Sympathisanten zu Terroristen? Und welche Maßnahmen zur Deradikalisierung gibt es, wenn jene der Anziehungskraft der Terroristen einmal erlegen sind?

      In Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Norwegen hat man ebenso wie in einer Reihe von muslimischen Ländern „Deradikalisierungsverfahren“ ersonnen, die Gruppentherapie und Belehrung durch „kompetente Autoritäten“ (im Fall der radikalen Islamisten sind das Imame) mit polizeilicher und psychologischer Nachsorge verbinden, um vormals Radikalisierte zu gewaltfreiem Verhalten hinzuführen.

      Vor allem in den Vereinigten Staaten, in geringerem Ausmaß aber auch in Europa, in den häufig autoritären Regimen des Nahen und Mittleren Ostens und anderswo haben die Regierungen die Dienste der akademischen Welt in Anspruch genommen, um Persönlichkeitsprofile erstellen zu lassen, die anfällig dafür machen, unter dem Einfluss radikaler Ideologien (hauptsächlich des dschihadistischen Islam) zum Gewalttäter zu werden. Um darüber Aufschluss zu erhalten, sind Milliarden Dollar investiert worden, entweder direkt (von den amerikanischen Geheimdiensten, namentlich der Homeland Security, aber auch durch Eigenmittel von Städten wie New York) oder indirekt (durch Forschungsförderung). Radikalisierung, zuvor ein eher randständiges Thema, wurde zu einem Gegenstand ersten Ranges, dessen Erforschung die westlichen und auf deren Betreiben auch die muslimischen oder muslimisch geprägten Staaten vorantrieben, um Informationen zu sammeln, die es zur Eindämmung dieser von kleinen Gruppen ausgeübten Gewalt braucht.

      Man spricht inzwischen von einer neuen Art von Kriegen mit niedriger Intensität, deren Vervielfältigung nach dem Ende der bipolaren Welt, wie es vom Berliner Mauerfall symbolisiert wird, einen tiefgreifenden Wandel in der Natur der Konflikte anzeigt. Für solche Kriege, in denen eine Guerilla oder Terroristen mitgeführte Sprengladungen in den Städten zur Explosion bringen, sind traditionelle Streitkräfte ohne grundlegende Modifikation ihrer Kriegsführung und Informationsbeschaffung nicht gerüstet.

      Seit den 1990er Jahren ist der Westen mit Gewalttaten von „hausgemachten Terroristen“ konfrontiert, also von radikalen Islamisten, die in Europa oder den Vereinigten Staaten aufgewachsen sind (so der in Frankreich zur Schule gegangene Khaled Kelkal, auf dessen Konto der Anschlag auf die Linie B der Pariser Regionalbahn RER geht, bei dem 8 Menschen zu Tode kamen und 148 verletzt wurden). Aber mitunter halten sich auch Mitglieder ausländischer Netzwerke im Westen auf, wie etwa in Deutschland die al-Qaida-Mitglieder, von denen der Anschlag auf die New Yorker Zwillingstürme ausgeführt wurde. Diese beiden Typen von Terroristen ausfindig zu machen stellt die Geheimdienste jeweils vor ganz unterschiedliche Anforderungen.

      Der Bedarf an Information über diese Terroristen, hausgemacht oder nicht, und über die Wege, auf denen sie sich Ideologien anschließen, die Gewalt predigen, um schließlich zur Tat zu schreiten, ist größtenteils dafür verantwortlich, dass Radikalisierung zu einem Schlüsselbegriff wurde, wenn es darum geht, die Etappen der Heranbildung terroristischer Akteure zu verstehen.

      Radikalisierung ist ein Phänomen, das in den westlichen und selbst in den islamischen Gesellschaften eine Minderheit, ja eine verschwindend kleine Minderheit betrifft. Es mag viele geben, die einer radikalen Ideologie anhängen, und viele, die aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen Gewalt ausüben (Kriminalität, Verbrechen aus Leidenschaft). Aber es gibt nur sehr wenige, die beide Dimensionen verknüpfen, um daraus ein Mittel der Selbstverwirklichung zu machen – solange sie nicht in Staaten leben, in denen eine suprematistische Ideologie herrscht (das heißt eine, die die Überlegenheit einer Rasse oder gesellschaftlichen Gruppe propagiert), oder sich zu Repräsentanten einer Klasse (wie der Arbeiterklasse im Falle der Sowjetunion unter Stalin) oder einer Nation aufwerfen (radikaler Nationalismus wie im nationalsozialistischen Deutschland). Der Begriff der Radikalisierung, wie wir ihn definieren, schließt indessen den Staat nicht ein, sondern beschränkt sich auf Bewegungen von unten, die von Individuen oder Gruppen ausgehen, die im Namen einer ex­­tremistischen Ideologie Gewalt anwenden. Der Begriff der Radikalisierung ist dem des Terrorismus in mancher Hinsicht verwandt, aber er unterscheidet sich von ihm darin, dass er sich auf die Akteure und die Formen, in denen sie sich der Gewalt verschreiben, auf ihre Motive, kurzum: auf die subjektive Dimension ihres Handelns konzentriert – in Verbindung mit den typischen Organisationen, die sich ihrer annehmen und zu deren Entstehung sie auf ihre Weise beitragen.

      Radikalisierung ist also, aus dieser Perspektive betrachtet, ein Phänomen, das nur bei einer sehr kleinen Minderheit zu beobachten ist, ob im Westen (wir denken an dschihadistische Täter, aber auch an gewalttätige Rechtsextreme wie den Norweger Breivik) oder in anderen Teilen der Welt (in der muslimischen Welt mag sich die dschihadistische Bewegung der Sympathie einer mehr oder weniger großen Zahl von Personen erfreuen, aber die dschihadistischen Täter im strengen Sinne sind, selbst in Pakistan, ein kleine Minderheit).

      Die

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