Radikalisierung. Farhad Khosrokhavar
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![Radikalisierung - Farhad Khosrokhavar Radikalisierung - Farhad Khosrokhavar](/cover_pre870498.jpg)
Kennzeichnend für die Radikalisierung ist die Verknüpfung einer radikalen Ideologie mit der finsteren Entschlossenheit, sie in die Tat umzusetzen.4 Wir haben es also mit einer zweifachen Radikalität zu tun, die keines ihrer beiden Elemente für sich genommen besitzt. Auf der einen Seite die extremistische Ideologie, auf der anderen die extremistische Gewalttat, die gewiss unter dem Einfluss jener Ideologie steht, aber ihre irreduzible Besonderheit besitzt und sich nicht in der bloßen Ausführung erschöpft. Ist der Übergang zur Tat einmal vollzogen, folgt sie in Anbetracht der Risiken und Notwendigkeiten ihrer Ausführung einer eigenen Logik.
Festzuhalten ist auch, dass es Radikalisierung nicht allein in muslimischen Ländern oder bei Gruppierungen gibt, die sich im Westen oder anderswo (Indien, Thailand, China …) auf den Islam berufen. Man kann sich im Namen anderer religiöser oder säkularer Ideologien radikalisieren, wie es sie auf der ganzen Welt gibt: Neonazismus und Neofaschismus in Europa, ökologischer Extremismus (Ökoterrorismus, ein Ableger der deep ecology), Pro-Life-Ideologien, die nicht davor zurückschrecken, gewaltsam gegen Abtreibung oder Homosexualität vorzugehen (Tote in den Vereinigten Staaten und den muslimischen Ländern). Gleichwohl steht der radikale Islamismus im Zentrum der überwältigenden Mehrheit der Studien zur Radikalisierung, nicht allein wegen der Wucht der Anschläge vom 11. September 2001 und der wechselvollen Geschichte des Mittleren und Nahen Ostens, sondern auch, weil die islamistischen Anschläge in Europa und den Vereinigten Staaten gegenüber jenen, die auf das Konto anderer Formen des Terrorismus gehen, als sehr viel bedrohlicher erlebt werden (selbst wenn die Zahlen das Gegenteil sagen). Wie die Bedrohung im Westen wahrgenommen wird, hängt also entscheidend von der symbolischen Dimension des islamistischen Terrors ab.
Im Prozess der Radikalisierung lassen sich verschiedene Phasen voneinander abheben:
•die Phase der Präradikalisierung,
•die der Identifikation des Akteurs mit radikalen Bewegungen,
•die der Indoktrinierung als Beeinflussung durch extremistische Lehren und schließlich
•die Phase der direkten Einbeziehung der Adepten in die Ausführung von Gewalttaten (Silber & Bhatt 2007; McCauley & Moskalenko 2008).
•Die Theorien der Radikalisierung konzentrieren sich mit unterschiedlicher Gewichtung auf kulturelle, politische, psychologische und internationale Faktoren, aber auch auf Faktoren innerhalb der radikalisierten Gruppen sowie auf die Rolle der Medien und sozialen Netzwerke (Internet) … Sie betonen die Auflösung sozialer Bindungen5 wie auch politische Faktoren und deren Wahrnehmung durch die radikalisierten Akteure (Crenshaw 2005). Manchen Analysen ist es vorwiegend um Besonderheiten von Splittergruppen zu tun, die sich gegenüber der Außenwelt verschließen. Zur Radikalisierung kommt es hier durch Abschottung innerhalb einer sektiererischen Organisation, die eine starke, gegen die Gesamtgesellschaft gerichtete Identität ausgebildet hat. Innerhalb der Untergrundgruppe hat man alle Brücken zur Gesellschaft und zur Realität abgebrochen, um nur noch den Kontakt zu anderen Gruppenmitgliedern aufrechtzuerhalten, die ihrerseits keine anderen Kontakte mehr pflegen und der Außenwelt feindlich gegenüberstehen. Durch das Leben in diesem verborgenen und abgeschlossenen Universum im Zeichen eines Reinheitsideals, das bis zur Gewalt gegen andere gehen kann, wird man zusehends „radikalisiert“.6
Die Beteiligung an Gewalttaten kann eine individuelle Entscheidung sein (der einsame Wolf). Oder sie ergibt sich, wenn das Individuum sich einmal einer Gruppe angeschlossen hat, aus der Interaktion mit deren Mitgliedern. Entscheidend sind sowohl die Abschottung gegenüber der Außenwelt – insbesondere in Verbindung mit Strategien, die das Abtauchen in den Untergrund voraussetzen7 – als auch die Dynamik innerhalb der Gruppe. Hat sie den Weg in die Gewalt einmal eingeschlagen, ist die Gruppe bedroht, was eine gemeinsame Identität stiftet, durch die diejenigen sozialen Dynamiken verstärkt werden, die den Zusammenhalt der Gruppe über das rationale Urteil von Einzelnen stellen. Daher kann der Einsatz von Gewalt umso verlockender werden, je mehr die Gruppe kraft ihrer sektiererischen Isolation den Realitätssinn verliert. Natürlich greift nicht jede sektiererische Gruppe zur Gewalt. Und nicht alle Mitglieder solcher Gruppen radikalisieren sich. Aber sind die Elemente der Radikalisierung einmal beisammen, kann die gemeinsame Abschottung gegenüber anderen den Übergang zur Gewalt begünstigen.
Bei bestimmten Individuen spielen die im Internet geknüpften Beziehungen zu radikalisierten Gruppen eine wesentliche Rolle. Das Individuum wie seine „Kampfgenossen“ üben gewalttätige Reflexe ein, und die wechselseitige Imitation wie der Heldenkult verstärken ihre antagonistische Haltung gegenüber der Gesellschaft. Die Führerschaft nimmt in solchen Gruppen eine dezentrale und nicht hierarchisierte Form an (Sageman 2004; Leiken & Brooke 2006). In dieser Hinsicht schwächen derlei Netzwerke die Rolle der Persönlichkeiten und rufen radikale Splittergruppen ohne Führer (leaderless) auf den Plan (Sageman 2008).
Man kann diese Auffassung freilich bestreiten, insbesondere im Hinblick auf die Entfaltung neuer Formen der Radikalisierung im Gefängnis, aber auch auf der Straße, wo der charismatische Führer eine unleugbare Rolle dabei spielt, andere, zuweilen unterwürfige oder psychisch gefährdete Personen in Gruppen einzubinden, die weniger als drei Mitglieder haben können (Khosrokhavar 2013).
Bestimmte Experten wollen die Radikalisierung aus dem Zusammenspiel der Entscheidungsprozesse innerhalb terroristischen Eliten, der Motivation von Individuen auf der Ebene einfacher „Infanteristen“ und schließlich der organisatorischen Probleme der Rekrutierung und der Sozialisation der Rekruten erklären.8 Diese Elemente tragen zur Radikalisierung durch die Kumulierung ihrer Effekte in der Interaktion innerhalb der geschlossenen Gruppe bei.
Andere insistieren auf kulturellen Prägungen und der entscheidenden Rolle, die sie in einem globalisierten Kontext spielen. Auf diesen kulturalistischen Zugang geht etwa die Rede von „Gewaltkulturen“ (Jürgensmeyer 2003) oder „gewalttätigen Subkulturen“ in Gesellschaften zurück. Im Übrigen können Gruppierungen aufgrund ihrer Stigmatisierung oder ihrer Geschichte (das mag der „interne Kolonialismus“ oder jede andere Kränkung sein, die Grund zur Klage gegen die Gesamtgesellschaft gibt) ein starkes Gefühl der Viktimisierung, ein Opferbewusstsein, entwickeln („wir sind die unschuldigen Opfer der Gesellschaft“), das sie zur „legitimen“ Gewalt gegen andere greifen lässt.
Ein anderes Korpus von Forschungen zur Radikalisierung konzentriert sich spezifischer auf religiöse Ideologien. Diese Forschungen verweisen darauf, dass in den durch Immigration entstanden muslimischen Gemeinschaften in Europa strenggläubige Auslegungen des Islam (vor allem in Organisationen wie den Tablighi Jamaat oder bei den Salafisten) auf fruchtbaren Boden stoßen. Daher die Sympathie für radikale Versionen der Religion Allahs (Coolsaet 2005). Diese Theorien bleiben freilich eine Antwort auf die Frage schuldig, weshalb extremistische Versionen anderer Religionen nicht in den „Heiligen Krieg“ münden.
Schließlich versuchen sich Theorien der rationalen Entscheidung (rational choice theories) an einer „rationalen“ Deutung radikalen Handelns. Aus ihrer Perspektive gehen terroristische Akte als bewusst vollzogene Handlungen auf eine wohlüberlegte Entscheidung zurück, die auf Strategien setzt, mit denen sich die ins Auge gefassten Ziele am besten erreichen lassen – insbesondere dann, wenn der Gegner auf militärischer Ebene derart überlegen ist, dass die Gruppe in einem klassischen Krieg keine Aussicht auf einen Sieg hätte (vgl. Gambetta 2005). Wenn al-Qaida sich für den Terrorismus entscheidet, ist dies in Anbetracht der eigenen Größe im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und zum Westen überhaupt eine rationale Entscheidung für eine Strategie, die der Organisation Handlungsmöglichkeiten einräumt, die ihr in einem klassischen Krieg verschlossen blieben. Die Radikalität der Akteure hat also eine Dimension, die sich nicht aus affektiven Gegebenheiten erklären lässt, und ist Teil eines strategischen Kalküls, das eine eigene „Rationalität“ besitzt.
Grundlegend für die neuen Formen der Radikalisierung ist das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer imaginären Gemeinschaft.