Radikalisierung. Farhad Khosrokhavar

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Radikalisierung - Farhad Khosrokhavar

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Raum. Das Psychische spielte eine Rolle, aber alles war darauf angelegt, seine Wirkungen in Grenzen zu halten. In beiden Blöcken gab es eine gut eingeführte Terminologie, genau bestimmte Einsätze und institutionalisierte Formen sozialen Verhaltens, die eine „individuelle Verwilderung“ sehr unwahrscheinlich machten. Heute dagegen hat die Radikalisierung zwar „objektive Gründe“ (Exklusion von Jugendlichen mit muslimischen Migrationshintergrund, Konflikte in der islamischen Welt, die proisraelische Politik der Vereinigten Staaten gegenüber den Palästinensern …), aber die rein subjektive Dimension gewinnt eine immer größere Bedeutung. Sie ist es, die durch einen soziologischen und anthropologischen Zugang freigelegt werden kann.

      Der Begriff der Radikalisierung wirft daher in den Sozialwissenschaften Erkenntnisprobleme auf, die weit über die von Sicherheitsbedürfnissen geleitete Perspektive der Geheimdienste und der Polizei hinausgehen.

      Der Begriff der Radikalisierung versucht, eine allgemeine sozialwissenschaftliche Erklärung für ein zumindest aus westlicher Sicht seltsam anmutendes Phänomen zu geben: Die Rückkehr des Religiösen in einer gewalttätigen Form, in der das letzte Ziel der Akteure der Tod ist – sei es der dem Feind zugefügte, sei es der durch ihn erlittene, durch den man Märtyrerstatus erlangt. Das Phänomen hat eine völlig neuartige Dimension, zumal in seiner massiven Verbreitung bei denen, die sich dem geheiligten Tod, dem Märtyrertum, verschrieben haben, um einen Kampf zu führen und Werte zu verteidigen, die seit der Aufklärung längst überwunden schienen: Die in Europa und namentlich in Frankreich herrschende Überzeugung, die Entscheidung über soziale und politische Belange liege beim „Volk“, lässt für Gott keinen Raum mehr. Angesichts jener Rückkehr mehren sich Stimmen, die den „innerweltlichen“ Blick der Sozialwissenschaften in Frage stellen. Tatsächlich geht es dem Begriff der Radikalisierung unter anderem darum, eine immanente Erklärung für Beweggründe zu bieten, die von den Akteuren selbst als „transzendent“ ausgegeben werden – im Rekurs auf eine Religiosität, die in den 1960er Jahren noch als veraltet, ja archaisch galt. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive soll der Radikalisierungsbegriff die Überlebensfähigkeit von „todesträchtigen“ Formen der Religiosität (die Feier des Märtyrertodes) oder – das Oxymoron ist aktueller denn je – „neoarchaischen“ Ausdrucksmöglichkeiten erklären, bei denen es unter religiösen Vorzeichen zu einer Verkehrung der Lebensideale kommt. Die Herausforderung an die Adresse der Sozialwissenschaften besteht darin, diesen Typ von Religiosität ohne Rekurs auf die Theologie zu erklären. Die theologischen Vorstellungen der Akteure müssen einen nichttranszendenten, immanenten Bedeutungsgehalt haben, der sich in soziologischen und anthropologischen Begriffen klären lässt.

      Im Westen steht im Übrigen das massive Auftreten der Radikalisierung in einem ganz bestimmten Kontext, nämlich dem der Deinstitutionalisierung. Zahlreiche Institutionen haben zum Schaden weiter Teile der Bevölkerung eine Schwächung erfahren, manche sind ganz zerfallen. Das gilt für die Gewerkschaften oder für politische Parteien wie die Kommunistische Partei, deren Verschwinden oder Marginalisierung die wirtschaftliche und soziale Integration der Unterschichten extrem erschwert hat. Solange in Frankreich und Italien die Kommunistische Partei stark war, bot sie zahlreichen Arbeitern oder Arbeiterkindern eine genau umrissene soziale Identität und eine damit einhergehende Selbstachtung. Der Niedergang der Kommunistischen Partei hat sich überdies in einer Situation vollzogen, in der ein bedeutender Teil der Unterschichten wirtschaftlich ausgegrenzt wurde und keine sozialen Aufstiegsmöglichkeiten mehr hat. Wenn zur Exklusion die Stigmatisierung hinzukommt, entsteht eine explosive Mischung. Doppelt geschlagen und ihrer politischen Ausdrucksmittel beraubt, neigen diese Gruppen dazu, entweder in stummer Passivität zu verharren, die von wachsender Kriminalität begleitet wird, oder aber ihrem Aufbegehren durch eine Gewalt Ausdruck zu verleihen, zu deren Ausdrucksweisen der radikale Islamismus zählt. Die Lage verschärft sich aufgrund der mentalen Verfassung derjenigen, die zu einem solchen Typus von Aktion neigen. Der Bezugspunkt „islamisch“ setzt einen Steigerungsmechanismus in Gang, der sehr weit führen kann, sobald die Symbole des Dschihad, des Heiligen Krieges, einmal mobilisiert sind und Aktivistengruppen aus anderen Teilen der Welt, insbesondere über das Internet, eine Verstärkerfunktion ausüben. In der muslimischen Welt haben die neoliberalen Politiken der Öffnung, der Infitah, Ende der 1980er Jahre die implizite Übereinkunft in Frage gestellt, die darin bestand, den Autoritarismus zu akzeptieren, um im Gegenzug in den Genuss sozialer Vergünstigungen zu kommen. Der Dschihadismus ist Ausdruck dieser Situation, in der das Aufbegehren, aber auch das offenbare Scheitern des autokratischen Nationalismus und der Mythos des „ursprünglichen Islam“ neue antimoderne Utopien hervorbringen.

      Außer Frage steht die Beziehung zwischen Dschihadismus und sozialer Exklusion – in Europa die Exklusion der Generationen mit Migrationshintergrund, die der Marginalisierung überantwortet sind, in der muslimischen Welt die Exklusion modernisierter Gesellschaftsschichten, vor allem der Mittelschicht. Zahllose ausgebildete Jugendliche finden dort keinen Arbeitsplatz, fühlen sich von despotischen und korrupten Machthabern ausgegrenzt und werden zu selbsternannten Fürsprechern der zu Armut oder Machtlosigkeit verurteilten Schichten (mustadafun). Dazu kommt das Ende der bipolaren Welt, in der die Ideologie auf der einen wie der anderen Seite eine maßgebliche Rolle spielte. Der Islam übernimmt fortan die Funktion, die einst Utopien kollektiven Heils hatten, sei es in ihrer marxistischen Version (der Klassenkampf, der der sozialen Ungerechtigkeit ein Ende setzt), sei es in ihrer liberalen Version (der Markt als Wunderlösung aller Probleme).

      In der Forschung wird Radikalisierung häufig als Verknüpfung einer extremistischen Ideologie mit einem mehr oder weniger organisierten Gewalthandeln begriffen (Bronner 2009). Gewalthandeln ohne radikale Ideologie kann verschiedene Formen annehmen (Kriminalität, mehr oder weniger situationsbedingte oder durch mentale Störungen hervorgerufene Gewalt). Und radikale Ideologien können auf einer theoretischen Ebene verharren, ohne zum Einsatz von Gewalt zu führen. Von Radikalisierung im strengen Sinne des Begriffs kann erst dann gesprochen werden, wenn es zu einer Verbindung beider kommt.

      Eine zu massiver Gewalt führende Radikalisierung war nicht vor der Einführung neuer Technologien möglich. Erst mit der Erfindung des Dynamits, der Fotografie und der Telegrafie war es den Dezembristen (antizaristischen Revolutionären in Russland vom Dezember 1825) möglich, eine Reihe von Taten zu verüben, denen eine mehr oder weniger große Zahl von Menschen zum Opfer fiel, und dafür zu sorgen, dass die Nachricht von diesen Taten um die ganze Welt ging. Zugleich hat der Wille zur Selbstbehauptung durch den vom Dschihadismus gefeierten Märtyrertod zu neuen Formen des Handelns geführt, etwa dem der „menschlichen Bomben“, die bereit sind, sich

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