Radikalisierung. Farhad Khosrokhavar

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Radikalisierung - Farhad Khosrokhavar

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Argwohn gegenüber den Teilnehmern zeugen, Verbot von Gebetsteppichen im Hof … Der wachsende Einfluss der Salafisten auf inhaftierte Muslime vertieft den Bruch. Salafisten sind keine Dschihadisten, aber sie predigen eine sektiererische Version des Islams, die zur Desozialisierung der jungen Anhänger beiträgt, indem sie einen unüberwindbaren Graben nicht nur zwischen Gläubigen und Ungläubigen aufreißt, sondern auch zwischen guten Muslimen, die ihren Glauben gewissenhaft ausüben, und schlechten Muslimen, die es mit den religiösen Vorschriften und Verboten nicht so genau nehmen.

      Wer islamistische Neigungen hat, wird durch die Haft, die Härten des Gefängnisalltags und die unausgefüllte Zeit, mit der man nichts Rechtes anzufangen weiß, noch anfälliger für die Sirenengesänge, die zur heiligen Gewalt aufrufen. Verwirrten Gemütern verheißt der radikale Islamismus eine Umkehrung der Rollen. Der junge Mann ist verurteilt worden, man hat ihn ins Gefängnis geschickt – aber künftig wird er es sein, der diese Gesellschaft ohne Erbarmen verurteilt, künftig wird er die Rolle des Richters übernehmen und als Ritter des Glaubens wider die Ungläubigen kämpfen. Der Gefangene gewinnt infolgedessen neues Vertrauen in sich selbst als jemand, der berufen ist, das göttliche Urteil zu vollstrecken.

      Die Initiationsreise

      Was den angehenden Dschihadisten endgültig von der Legitimität der Sache überzeugt, für die er kämpfen will, ist eine Initiationsreise in ein Land des Nahen und Mittleren Ostens, zu den Schauplätzen des Heiligen Krieges. Mohammed Merah war in Pakistan und Afghanistan; Mehdi Nemmouche ist in die Türkei gereist und steht im Verdacht, 2012 ein Jahr an der Seite von Dschihadisten in Syrien verbracht zu haben; die Brüder Kouachi waren im Jemen, wo sie eine militärische Ausbildung bei „al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ genossen haben. Der Fall von Amedy Coulibaly mag die Ausnahme sein, obgleich sich Spuren von ihm in der Türkei finden und man vermutet, dass er sich in Syrien aufgehalten hat.

      In der Mehrheit der Fälle bestätigt die Initiationsreise den jungen Dschihadisten in seiner neuen Identität: Sie erlaubt es ihm, mythische Bande zu den muslimischen Gesellschaften zu knüpfen, obwohl er ihre Sprache nicht spricht und mit ihren Sitten und Gebräuchen nicht vertraut ist. Eine solche Reise bietet ihm zudem die Möglichkeit, sich im Umgang mit Waffen zu schulen. Vor allem aber dient sie dazu, gegenüber der eigenen Gesellschaft zum „Fremden“ zu werden. Der junge Dschihadist lernt, „mitleidslos“ zu werden, Geiseln oder inkriminierte Personen (Polizisten, Soldaten, Juden, „schlechte Muslime“) ohne Gefühlsregung professionell zu exekutieren, alle moralischen Bedenken über Bord zu werfen, kurzum: zum hartgesottenen Kämpfer in einem bis zum Äußersten gehenden Heiligen Krieg zu werden.

      Ein negativer Held werden

      In diesem Stadium verspürt der junge Dschihadist das unwiderstehliche Bedürfnis, gegen seine eigene ungeliebte Gesellschaft mit der Neo-Umma eins zu werden. Der dschihadistische Islam stellt ihm den Status des absoluten Helden in Aussicht. Als Mudschahed (Glaubenskrieger, vom selben Wortstamm wie Dschihad) wird er ein Märtyrer sein. Er wird töten und Angst verbreiten. Der Hass, der ihm entgegenschlägt, wird ihm Größe verleihen und ihn mit Stolz erfüllen. Umso mehr wird er alles daransetzen müssen, dass die anderen und vor allem die Medien sein Bekenntnis zum Dschihadismus als solches erkennen und anerkennen. Und es sind in der Tat die Medien, in denen die Kunde von seinen Untaten um die ganze Welt geht, die seinen Ruhm verbreiten, ihn zum Weltstar machen werden. Mit ihrer Hilfe wird er aus der Anonymität und Bedeutungslosigkeit heraustreten und zum „negativen Helden“ werden. An die Stelle der Verachtung, die ihm die weißen arrivierten Franzosen entgegengebracht haben, tritt Todesangst. Seine Überlegenheit bemisst sich daran, dass die anderen um ihr Leben fürchten. Im Übrigen fühlt er sich von den Medien anerkannt, wenn er tagelang die Nachrichten und die Schlagzeilen beherrscht. Mohammed Merah und Amedy Coulibaly wussten sehr gut, dass die Kameras der Welt auf sie gerichtet waren.

      Eine neue Gruppe: Jugendliche aus den Mittelschichten

      Die regressive Utopie der Neo-Umma übt kombiniert mit der Rolle des furchtlosen Ritters im Dschihad eine unwiderstehliche Faszination auf bestimmte Jugendliche in den Vorstadtgettos aus. Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien 2013 gibt es indessen einen zweiten Rekrutierungspool für den Dschihadismus: Jugendliche aus den Mittelschichten, die in einer Sinnkrise stecken.

      Vor 2014 mehr oder weniger unbekannt, machen sie inzwischen neben Jugendlichen aus der Banlieue einen nicht unbedeutenden Teil der angehenden Dschihadisten aus, die nach Syrien aufbrechen, um sich in den Dienst des „Islamischen Staates“ (Daesh) oder anderer, aus dem Umfeld von al-Qaida stammender dschihadistischer Gruppen wie der al-Nusra-Front (Jabhat al-Nusra) zu stellen.

      Diese Jugendlichen, oft Heranwachsende mit Entwicklungsstörungen, verstärken die Reservearmee des Dschihad, nachdem sie zum Islam konvertiert sind. Unter ihnen finden sich ernüchterte Christen auf der Suche nach starken Erlebnissen, wie sie der institutionalisierte Katholizismus nicht bieten kann, ebenso wie säkularisierte Juden, die eines Judentums ohne religiöse Verankerung müde sind, und Buddhisten, die mit der friedfertigen Spielart dieser Religion in Europa brechen, um nach einer im Dienste des Heiligen Krieges erstarkten Identität zu suchen …

      In der Horde der Dschihad-Aspiranten sind auch junge Mädchen aus gutem Hause auf der Suche nach einer postfeministischen Erfahrung, die mit dem Reiz des Fremden lockt und geeignet scheint, einem zu prosaisch gewordenen Leben neuen Sinn zu verleihen. Oft zieht es sie zu den jungen Männern, die ihre Männlichkeit und Verlässlichkeit unter Beweis stellen, indem sie dem Tod ins Auge blicken. Bei ihnen glauben sie Schutz zu finden, ohne ihre Würde als Frau preisgeben zu müssen. Und sie stellen sich auch selbst in den Dienst des Heiligen Krieges: Mit ihrem Bekenntnis zum radikalen Islam werden sie zu Gefährtinnen der Glaubenskrieger und erleben in dieser freiwilligen Knechtschaft ein Vertrauensverhältnis zu Männern, die nichts mit den von Unreife und Lebensangst geprägten Jungen aus ihrer Umgebung gemein haben, die unbeständig sind und nach Lust und Laune ihre Freundinnen wechseln.

      Anti-68er

      Anders als die Dschihadisten aus der Banlieue beseelt diese Jugendlichen aus den Mittelschichten nicht der Hass auf die Gesellschaft. Und anders als diejenigen, die ihre Ausgrenzung durch die Gesellschaft verinnerlicht haben, ist ihr Leben auch vom Drama der Viktimisierung verschont geblieben. Ihr Problem ist eines der Autorität und der Normen. Die Patchwork-Familie hat in dieser Generation zu einem Autoritätszerfall geführt, und das erstarkte Recht des Kindes hat einen Typus des „früherwachsenen“, aber häufig zugleich unreifen Jugendlichen auf den Plan gerufen. Die Kombination aus Rechtsansprüchen, der Aufsplitterung der Autorität zwischen verschiedenen Elterninstanzen sowie einer Aufweichung von Normen (republikanische eingeschlossen) lässt im Gegenzug den Ruf nach unverbrüchlichen Regeln und starken Autoritäten laut werden. Eine Minderheit dieser neuen Generation leidet darunter, es mit mehreren diffusen Erziehungsinstanzen, aber mit keiner klar definierten Autorität zu tun zu haben. Daher ihr Wunsch nach trennscharfen Grenzen zwischen Erlaubtem und Verbotenem. Die islamistischen Normen bieten eine solche unzweideutige Abgrenzung, die das Verbotene in aller Schärfe namhaft macht. Der radikale Islamismus erlaubt es dieser Jugend, das spielerische Wagnis mit dem tödlichen Ernst dschihadistischer Glaubenssätze zu verknüpfen. Er gibt ihnen das Gefühl, sich nicht allein unverrückbaren Normen zu beugen, sondern mit deren Durchsetzung in der Welt betraut zu sein, das Verhältnis von Heranwachsendem und Erwachsenem umzukehren und derjenige zu sein, der die heiligen Normen aufrichtet und sie den anderen auferlegt.

      Die sich für den Dschihad begeisternde Jugend verkörpert Ideale, die denen des Mai ’68 diametral entgegengesetzt sind. Ging es damals um Steigerung der Lust in der Unendlichkeit eines gegen gesellschaftliche Zwänge zurückeroberten Begehrens, so ist es dieser neuen Generation im Gegenteil darum zu tun, dem Begehren strikte Regeln aufzuerlegen: Im Bekenntnis zu einem strenggläubigen Islamismus wird es Einschränkungen unterworfen, die ihm in den Augen

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