Radikalisierung. Farhad Khosrokhavar

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Radikalisierung - Farhad Khosrokhavar

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sie heute herbei und sehnt sich nach sakralen Normen, die dem freien Willen des Menschen entzogen sind. Damals war man Anarchist und vom Hass auf patriarchale Mächte durchdrungen. Heute rehabilitiert sich der radikale Islamismus, indem er sich gegen die Gleichheit von Mann und Frau wendet, eine verquere Form des Patriarchats im Rekurs auf einen unversöhnlichen und ungnädigen Gott – Widerpart sowohl eines verweichlichten Republikanismus als auch eines allzu humanisierten Christentums. Der Mai ’68 war ein ununterbrochenes Fest, das sich im Rausch der Reisen nach Kathmandu und Afghanistan fortsetzte. Heute folgt die dschihadistische Initiationsreise dem Streben einer Reinheit, die sich in einem dem Tod ins Auge sehenden Märtyrertum erfüllt.

      Der Niedergang des Politischen

      Neben den Phantasmen einer sakralisierten Normativität spielt auch die internationale Situation eine nicht unerhebliche Rolle. Zahllose Jugendliche treibt die Forderung nach Gerechtigkeit für Syrien an, wo ein blutrünstiges Regime 200 000 Menschen getötet und Millionen anderer in die Flucht geschlagen hat. Sie wähnen sich auf einer humanitären Mission, die sich mit einem sich selbst als gutwillig verstehenden Dschihadismus verbindet. Wo der Westen sein Unvermögen gegenüber einer verbrecherischen Diktatur unter Beweis gestellt hat, kämpfen jene Jugendlichen, mit einem naiven Glauben gerüstet, gegen das Böse – im Namen eines Dschihad, dessen monströsen und entmenschenden Charakter sie häufig nicht ermessen. Der Übergang kann sich schleichend vollziehen, wie das bei bestimmten Mitgliedern der Roubaix-Gang der Fall war, etwa bei Christophe Caze, der sich in den 1990er Jahren humanitären Projekten gewidmet hatte, bevor er zum radikalen Islamisten wurde.

      Dass Jugendliche aus den Mittelschichten sich der nach Syrien exportierten Spielart des Dschihadismus anschließen, wirft die Frage nach dem Unbehagen auf, das diese Jugend empfindet. Sie leidet am Niedergang des Politischen, sie ist empört über die Ungerechtigkeit in einem durch die Medien nähergerückten Syrien, dessen Regime Verbrechen gegen die Menschlichkeit in monströsen Ausmaßen verübt. Und sie sucht nach etwas, das ihrem Dasein einen Sinn verleiht. Die Jugend aus den Vorstadtgettos hat in der Regel eine infra- oder suprapolitische Einstellung. Die Abschottung, der Rückzug ins Getto oder die Gewalt in ihrer vulgären (Kriminalität) oder sakralisierten Gestalt (Dschihadismus) sind Haltungen sei es diesseits, sei es jenseits des Politischen. In den Mittelschichten hat das Politische als Bezugspunkt seit den 1980er Jahren eine tiefe Krise durchlaufen und für eine ganze Generation seine identitätsstiftende Kraft verloren. Für sie ist der Dschihadismus eine Konsequenz, die sie aus dem Niedergang des politischen Projekts als kollektiven Hoffnungsträgers zieht.

      Von den Anschlägen auf die Pariser Regionalbahn (RER B) zu den Terroranschlägen vom 13. November 2015: Zwanzig Jahre Terrorismus in Frankreich

      1994-95: Frankreich wird Opfer einer Anschlagswelle. Begonnen hat alles mit dem Militärputsch von 1992 in Algerien, der den Front islamique du salut (FIS), die Islamische Heilsfront, Sieger der Parlamentswahlen von 1991, stürzte. Der FIS verwandelt sich daraufhin allmählich in eine terroristische Vereinigung. Die von ihm abgespaltene GIA (Groupe islamique armé) und andere Splittergruppen wollen Frankreich für seine Unterstützung der Militärs bestrafen. Der Imam Sahraoui, der dem gemäßigten Flügel des FIS angehört, wird am 11. Juli 1995 in Paris getötet. Am 25. Juli desselben Jahres fordert eine in der Linie B des RER (Réseau express régional) deponierte Bombe an der Station Saint-Michel/Notre Dame 8 Tote und 117 Verletzte. Am 17. August findet an der Place de l’Étoile in Paris ein weiterer Anschlag statt, bei dem 17 Personen durch eine selbstgebaute Bombe verletzt werden. Ein weiterer Sprengkörper wird am 26. August 1995 im TGV Paris–Lyon entschärft.

      Ein junger Mann algerischer Herkunft, Khaled Kelkal, ist in die Anschläge verwickelt. Am 29. September 1995 wird er in einem Feuergefecht mit den Ordnungskräften getötet. Mehrere Kleingruppen treten in seine Fußstapfen, wie die Roubaix-Gang, deren Mitglieder größtenteils während des Bosnienkriegs 1994/95 an der Seite muslimischer Milizionäre gekämpft hatten. Unter ihnen sind mehrere konvertierte Franzosen, wie Lionel Dumont und Christophe Caze, und weitere junge Männer wie Omar Zemmiri, Mouloud Bouguelane, Hocine Bendaoui … Am 29. März 1996 stürmt die Polizei ihr Appartement in Roubaix. Die Gang wird zerschlagen.

      Die Dschihadistenzelle von Buttes-Chaumont ist eine andere Gruppe, die sich um den jungen Guru Farid Benyettou im Umkreis der Addawa-Moschee in der Rue de Tanger gebildet hat. Der junge Prediger bildet Anhänger aus, trainiert sie im Park von Buttes-Chaumont und schickt sie dann in den Irak, wo sie gegen die amerikanischen Streitkräfte kämpfen. Drei kommen dort ums Leben. 2005 wird das Netzwerk zerschlagen. 2008 werden mehrere dieser jungen Dschihadisten wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Planung terroristischer Akte zu Haftstrafen verurteilt. (Eines der Mitglieder, Chérif Kouachi, wird gemeinsam mit seinem älteren Bruder Saïd Urheber des Anschlags auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015.)

      Seither sind in Frankreich mehrere Anschläge von den Ordnungskräften vereitelt worden. Erst im März 2012 sieht sich das Land wieder mit erfolgreichen Attentaten konfrontiert, deren Urheber ein junger Franzose algerischer Herkunft ist, Mohammed Merah. Er ermordet in Toulouse und Montauban sieben Personen, sechs werden verwundet. Unter ihnen sind drei Soldaten, zwei von ihnen Muslime, und vier Juden. Zwei Jahre später, am 24. Mai 2014, werden im Jüdischen Museum in Brüssel vier Personen von Mehdi Nemmouche getötet.

      Um Journalisten zu bestrafen, die durch ihre Karikaturen den Propheten beleidigt haben sollen, richten am 7. Januar 2015 die Brüder Saïd und Chérif Kouachi bei ihrem Anschlag auf Charlie Hebdo ein Massaker an, dem zwölf Personen zum Opfer fallen. Amédy Coulibaly, der mit den Brüdern in Verbindung steht, deren jüngeren er im Gefängnis kennengelernt hat, tötet am 8. und 9. Februar fünf Personen, eine Polizistin und vier Juden.

      Weniger als ein Jahr später, am 13. November 2015, fallen in Paris 130 Personen acht koordinierten Anschlägen zum Opfer. Unter den Terroristen sind mindestens vier Franzosen: Bilal Hadfi, zwanzig Jahre alt und wohnhaft in Belgien, sprengt sich vor dem Stade de France in die Luft; Samy Amimour, 28, und Omar Ismaïl Mostefaï, 29, gehören zum Mordkommando im Club Bataclan, wo 89 Menschen den Tod finden. Ein weiterer Franzose, Brahim Abdelam, 31, zündet seinen Sprengstoffgürtel in einem Restaurant am Boulevard Voltaire.

      Drei Generationen von Dschihadisten

      Seit den 1980er Jahren hat der Dschihadismus mehrere Phasen durchlaufen:

      • Die „Afghanen“: Der Ursprung von al-Qaida geht auf die Zeit zurück, in der sich Islamisten mit Unterstützung des Westens nach Afghanistan aufmachen, um gegen die sowjetische Besatzung zu kämpfen.

      1989 kehren diese Veteranen – unter ihnen Osama bin Laden – in ihre Heimatländer zurück, um den Dschihad dort „von innen“ zu führen. Sie bilden den ersten harten Kern derjenigen, die andere im Umgang mit der Waffe und in Kampftechniken schulen.

      • Terrornetzwerke im Internet: in der Folge tritt eine neue Generation auf den Plan, die weniger vor Ort als vielmehr im Internet ausgebildet wird. Diese Generation verfügt über genaue Kenntnisse des Internet, das sie als Propagandamittel nutzt.

      • Die syrische Front: Eine dritte Generation erhält ihre Ausbildung in den vom Staatszerfall gezeichneten arabischen Ländern: im Jemen, in Libyen, an der algerisch-tunesischen Grenze und vor allem, seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs 2013, in Syrien. Mehr als 10 000 ausländischer Dschihadisten kämpfen derzeit in Syrien, darunter ungefähr 2000 Europäer.

      Die Neo-Umma, eine gefährliche Utopie

      Historisch gesehen war die muslimische Gemeinschaft (die Umma) eine Bezugsgröße, um lokal, regional oder national (gegen den westlichen Kolonialismus) zur islamischen Solidarität aufzurufen. Aufgrund der Spaltung zwischen Schiiten und Sunniten schloss

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