Radikalisierung. Farhad Khosrokhavar
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![Radikalisierung - Farhad Khosrokhavar Radikalisierung - Farhad Khosrokhavar](/cover_pre870498.jpg)
Mein Ansatzpunkt ist der einer soziologischen Akteurstheorie, die das Handeln des radikalisierten Individuums in einer globalisierten Welt in den Blick nimmt, in der sein Verhalten drei Bedingungen gehorcht:
•als gedemütigtes Individuum: Das ist der Fall der Jugendlichen aus französischen Vororten und gettoisierten Vierteln in Großbritannien oder der von Israel gedemütigten jungen Palästinenser, aber auch der Jugendlichen des Nahen und Mittleren Ostens, die häufig eine gute wissenschaftliche Ausbildung genossen haben, aber keine Arbeit finden oder sich von autoritären Regimen ausgegrenzt fühlen … Ob sie aus den Unterschichten oder der Mittelschicht stammen – diese Individuen werfen dem System vor, sie zur Bedeutungslosigkeit zu verurteilen und zu demütigen, indem es sie politisch und ökonomisch an den Rand drängt.
•als viktimisiertes Individuum: Demütigung, Frustration, Rassismus, soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung werden innerhalb einer imaginären Struktur erlebt, die dem Individuum das halb reale, halb fiktive Gefühl, keine Zukunft zu haben, vor verschlossenen Türen zu stehen, kurzum: das Gefühl einer inneren Gettoisierung vermittelt.
Wer diese Situation passiv erduldet, mag in die Kriminalität oder individuelle Gewalt abrutschen. Wer dagegen aufbegehrt und aktiv wird, tut dies häufig, indem er seine innere Erfahrung ideologisiert und durch Übernahme dschihadistischer Vorstellungen seinen Hass gegen die „Nichtmuslime“ richtet. Der Islamismus bietet eine aktivistische Alternative, die linksextreme Ideologien nicht mehr zu bieten vermögen,
•als Mitglied einer verfolgten Gruppe, der „Neo-Umma“, die in den historisch gewordenen muslimischen Gemeinschaften (der muslimischen Umma) keine Entsprechung hat. Dieses Zugehörigkeitsgefühl lässt das Individuum seine Stigmatisierung überwinden und verleiht ihm eine neue Identität. Born again, wiedergeboren, erfährt es, wie in einer Gesellschaft, deren unerbittlicher Feind es geworden ist, seine Stellung sich gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt. Zuvor von niedriger sozialer Stellung – Immigrant oder Immigrantensohn, Palästinenser, eingesperrt in eines der erstickenden Viertel im Gazastreifen, oder Ägypter, der in einem Elendsviertel lebt –, wird der junge Mann zum Helden des Islam, der die Gestalt einer „Religion der Unterdrückten“ annimmt. Gegenüber der bekämpften Außenwelt gewinnt er den Status des „negativen Helden“ (siehe weiter unten): Je mehr die in schwarzen Farben gemalte Welt ihn fürchtet, verabscheut, zurückstößt, desto größer sein Ruhm – ein Held für alle, die sein Glaubensbekenntnis teilen, ein Staatsfeind für alle anderen. Die Berichterstattung der Medien, durch die er sich selbst als „Medienheld“ erfährt, lässt zur rationalen Dimension die narzisstische hinzutreten. Die ganze Welt wird ihn kennen, die Medien, die doch auf der Seite des Gegners stehen, werden ihn emporheben und verherrlichen. Mohammed Merah trägt eine Kamera um den Hals, um seine Taten zu filmen und sie über die Fernsehkanäle in der gesamten Welt zu verbreiten; Moussaoui hält im Mai 2006 vor Gericht menschenverachtende Reden, in denen er die Opfer des 11. September beleidigt, weil er nur zu gut weiß, dass seine weltweite Berühmtheit umso mehr wächst, je mehr er die Empörung der Amerikaner erregt und sich als finstere Gestalt darstellt. Diese Dimension des „negativen Stars“ ist grundlegend für die Subjektivierung derer, die sich heute radikalisieren, insbesondere die Dschihadisten, aber auch jemandes wie Anders Breivik, der zur extremen Rechten zählende norwegische Terrorist, auf dessen Konto das Gemetzel vom 22. Juli 2011 geht. Breivik hatte „Werbung“ für seine Ideologie gemacht, indem er am Tag des Anschlags elektronisch ein Dokument verbreitete, das seinen „Kulturkonservatismus“, seinen Ultranationalismus, seine Islamophobie, seinen Antifeminismus, seinen „weißen Nationalismus“ und seinen Zionismus feiert, um dem Multikulturalismus „Eurabias“9 und den Muslimen entgegenzutreten, die es zur Rettung des Christentums aus Europa zu vertreiben gelte. 1518 Seiten stark, ging sein Manifest 2083, das er nicht auf Norwegisch, sondern auf Englisch verfasst hatte, um es der ganzen Welt zugänglich zu machen, an mehr als tausend Adressaten, unterstützt von zahlreichen Posts auf der Seite document.no, die ihrerseits der weltweiten Information und Verführung dienen sollten. Für Breivik waren die Anschläge selber Teil seines Werbefeldzugs für das Projekt eines neuen Europa.
Diese drei Dimensionen, die im Kontext der Globalisierung ineinandergreifen, haben die radikalisierten Personen verinnerlicht. Die Gewalttat und die Berichterstattung über sie sind nicht mehr voneinander zu trennen. Die symbolische Dimension, die nicht allein der Information, sondern auch der Einschüchterung und Verführung dient, und die Konditionierung des Gegners durch den Schock der Bilder (die beim Täter das Gefühl der Allmacht wecken) gehen Hand in Hand mit der Brutalität der Tat: Das radikalisierte Subjekt handelt nicht allein, um Schaden anzurichten, sondern auch, um im Dienst der eigenen Sache „die Trommel zu rühren“.
Im Übrigen radikalisiert man sich stets aus dem Gefühl heraus, man selbst oder die Gruppe, der man sich zugehörig glaubt, sei Opfer tiefer Ungerechtigkeit, und aus der Überzeugung, dass reformerische Absichten dagegen nichts ausrichten. Nicht jedes Gefühl einer unerträglichen Ungerechtigkeit führt zur Radikalisierung, aber jede Radikalisierung setzt dieses Gefühl bei den Akteuren an der Basis voraus. Das Gefühl der Ungerechtigkeit kann eine Alltagserfahrung sein (die Unterdrückung der Tschetschenen durch die russische Armee, der Palästinenser durch die israelische Armee, der Kaschmirer durch die indische Armee, um nur ein paar Fälle zu zitieren), die eine Radikalisierung nationalistischen Typs nach sich zieht. Aber die Ungerechtigkeitserfahrung kann sich auch durch eigene Erfahrung oder Übertragung auf die gesamte Weltsicht eines sich radikalisierenden Akteurs ausdehnen. Junge Franzosen maghrebinischer Herkunft, die unter sozialer Marginalisierung leiden, übertragen die Erfahrung der Palästinenser mit der israelischen Armee auf ihre eigene Situation in den französischen Vorstädten, wenn sie gegen Ordnungskräfte aufbegehren. Diese imaginäre Übertragung hat nicht zwangsläufig eine reale Entsprechung (die französische Polizei ist nicht die israelische Armee), aber sie nährt sich durch Nachahmung und erstreckt sich schließlich auf sämtliche sozialen und politischen Beziehungen des Individuums. Um das bereits zitierte Beispiel noch einmal aufzugreifen: Wenn Jugendliche aus französischen Vorstädten sich in dem Glauben radikalisieren, der Westen verfolge den Islam, dann stützen sie sich nicht nur auf eigene Erfahrungen mit den Ordnungskräften (Muslime, die von der Polizei misshandelt werden, die Islamophobie), sondern zitieren auch bosnische, afghanische, irakische oder malische Beispiele, um daraus den Schluss zu ziehen, dass Frankreich und die Vereinigten Staaten sich verschworen haben, um die Muslime auf der ganzen Welt zu unterdrücken. Also verwandeln sie sich in Retter des Islam und entscheiden sich für den Dschihadismus im Inland (Mohammed Merah) oder im Ausland (die Gruppe um Farid Benyettou). Das Imaginäre, die Subjektivierung, die Nachahmung, die subjektive Übertragung und das Gefühl der Erniedrigung spielen im Prozess der Radikalisierung eine maßgebliche Rolle. Der junge Franzose nordafrikanischer Herkunft versetzt sich in die Lage des Palästinensers oder, allgemeiner, des muslimischen Arabers, der von Israel oder vom Westen gedemütigt wird. Der junge „Paki“10 identifiziert sich mit dem von der indischen Armee unterjochten Kaschmirer, der junge Tschetschene begehrt gegen die Unterdrückung der russischen Armee auf, aber er kann sich, noch realitätsferner, durch Übertragung auch gegen das Aufnahmeland radikalisieren und sich zum Helden des Islam im erbarmungslosen Kampf gegen ein unterdrückerisches „Amerika“ erklären.
Die Radikalisierung gewinnt also eine imaginäre Dimension ausgehend von Bildern, die man im Internet oder im Fernsehen gesehen hat, und aufgrund von Freundschaften, die nicht nur in der Nähe (die Kumpel), sondern auch in der Ferne, im Internet oder im Gefängnis mit Individuen geschlossen werden, die schon radikalisiert sind oder aufbegehren, weil sie aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit (als Muslim) oder ethnischer Merkmale (als Araber, Schwarzer, „Gris“, wie Franzosen maghrebinischer Herkunft in Frankreich genannt werden) ungerecht behandelt werden.
Auf anthropologischer Ebene hat die Radikalisierung eine unleugbare politische Dimension, die sich aber auf eine Weise ausdrückt, die man infra- oder suprapolitisch nennen kann (Wieviorka 1988). Infrapolitisch: Indem es sie mit einer affektiven Dimension überblendet und Gewalt zum Mittel seines Handelns macht, bringt das