Komplexitätsmanagement. Michael Reiss

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Komplexitätsmanagement - Michael Reiss

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um ein Management dieser Herausforderungen, wie die folgenden Beispiele verdeutlichen: Im globalen politischen Umfeld wird die bipolare Welt durch eine multipolare Welt abgelöst. Immer häufiger ersetzen Multiparteien-Koalitionen die herkömmlichen Ein- oder Zweiparteienkonstellationen bei der Regierungsbildung. Das klassische auf »den« Kunden fokussierte Absatzmarketing geht immer häufiger in ein komplexes Marketing auf zweiseitigen oder mehrseitigen Märkten über. Gleichermaßen ist es erforderlich, die Strategien für grenzüberschreitende Geschäftsaktivitäten in internationale, globale, multinationale und transnationale Strategien zu differenzieren, je nachdem, ob dadurch Lokalisierungsvorteile, Globalisierungsvorteile oder beide Vorteile angestrebt werden (Wagner/ Menske-Petermann 2006). Karrierewege werden zunehmend diversifiziert, z. B. in einer Fach-, Führungs- und Projektlaufbahn. Das Einsatzgebiet des Portfolio-Managements wird ausgehend von finanziellen Anlagen auf zahlreiche andere Domänen wie Geschäftsfelder, Allianzen, Energieformen oder Projekte ausgeweitet. Im Risikomanagement wird häufig mit Mehrsäulenmodellen operiert: Im Basel II-Abkommen zur risikofokussierten Bankenregulierung erfolgt das etwa mit den drei Säulen »Mindesteigenkapitalanforderungen«, »Bankaufsichtsprozesse« und »erweiterte Offenlegung«. Auch die Kommunikationswege im Unternehmen werden stärker differenziert. Dies geschieht nicht nur nach Medien, sondern auch nach Inhalten: operative Anweisungen über die Dienstwegkommunikation, Ideen über das Vorschlagswesen, Beschwerden über ein Complaint Management und Hinweise (z. B. Whistle Blowing) über Compliance-Beauftragte. Das Wachstum von Unternehmen wird durch externes konventionelles Wachstum (z. B. Vorwärtsintegration, Rückwärtsintegration, Seitwärtsintegration) sowie durch externes virtuelles Wachstum (z. B. Extended Enterprise, Ecosystems) beschleunigt. Ansätze zur Optimierung unternehmensübergreifender Wertschöpfungssysteme wie etwa das Supply Chain Management ersetzen unternehmensinterne Optimierungsmodelle, etwa des Beschaffungsmanagements. Die Schnittstellendichte zwischen Unternehmen erhöht sich stufenweise, z. B. beim Übergang von marktlichen Angebot-Nachfrage-Beziehungen auf Supply Chains, auf Supply Networks (Braziotis et al. 2013), auf Value Nets und auf Business Ecosystems (Reiss 2013, S. 115, 131; Adner 2017; Jacobides/ Cennamo/ Gawer 2018). Das Qualitätsmanagement erfordert nicht nur Drittparteien (z. B. Prüfungs- und Zertifizierungseinrichtungen, Rating-Agenturen), sondern auch »Viertparteien«, die die Drittparteien überwachen. Konfigurationen aus heterogenen Komponenten, etwa in Gestalt von cyber-physischen Systemen, hybriden Produkten (Sach- und Dienstleistung, Reiss/ Günther 2010), Brick & Click-Vertriebskanälen, Combined-Currency Preismanagement (z. B. Euro und Bonuspunkte, Huber et al. 2010) ersetzen vielerorts homogene Konfigurationen. Die wachsende Unsicherheit lässt sich nicht mehr mit Plan B-Ansätzen bewältigen, sondern erfordert weitere Alternativpläne (Plan C, Plan D). Rollenambiguität, d. h. das »Arbeiten mit mehreren Hüten«, ist nicht auf die simultane Mitwirkung als Projektmitarbeiter und als Abteilungsmitarbeiter beschränkt. Sie erstreckt sich zunehmend auf extrem gegensätzliche Rollen, etwa Prosumenten, Co-Producer oder Koopkurrenten.

      Der steigende Stellenwert von Komplexität ist auch semantisch ablesbar aus einem Bedarf an neuen komplexitätsorientierten Begrifflichkeiten. Um die wachsende Vielfalt überschaubar zu halten, werden vermehrt Sammelbegriffe eingeführt, etwa Entitäten (Gebilde), Tonträger (statt CD, DVD, LP), Wertschöpfungsakteure (statt Kunden, Lieferanten, Komplementoren oder Konkurrenten), Hybridkapital (statt Wandelanleihen oder Mezzanine-Kapital) oder MultiSport (statt Triathlon, Aquathlon, Biathlon). Hinzu kommen Wortneuschöpfungen zur Beschreibung von unkonventionellen Doppelrollen, z. B. Double Hybrid Management Accountants oder Frenemies (»Friends« & »Enemies«). Im Diversitätsmanagement führen differenzierte Variantenspektren sexueller Orientierung und sexueller Identität jenseits der Gender-Binarität in Gestalt von »transsexuell«, »transgender«, »intersexuell«, »zwischengeschlechtlich«, »queer«, drittes Geschlecht (»divers«) zu immer komplexeren Abkürzungen, etwa LGB, LGBT, LGBTQ, LSBTTIQ bzw. LGBTQ+. In der Personalmanagementpraxis mündet eine fehlende Beachtung dieser hochgradigen Diversität in Verstößen gegen die Gleichbehandlung, z. B. bei Stellenausschreibungen oder der gendergerechten Sprache.

      Hand in Hand mit dem wachsenden Problembewusstsein für die Relevanz eines komplexitätsfokussierten Zugangs wächst der Stellenwert von Ansätzen zur Handhabung von Komplexität. Dies belegen zahlreiche komplexitätsgerechte Lösungsansätze, etwa Heuristiken und Näherungsverfahren. Ferner schlägt sich der steigende Stellenwert in der Tatsache nieder, dass sich das Komplexitätsmanagement als Dienstleistung (z. B. Smart Simplicity) von Beratungsunternehmen etabliert hat. Teilweise hat sich dies nicht nur in den Dienstleistungsprogrammen, sondern auch in Firmennamen (z. B. »Simplexity«, »Simplity«) niedergeschlagen. Darüber hinaus lässt sich eine zunehmende explizite Komplexitätsorientierung nicht nur im Alltag (z. B. Complexity Gaming als E-Sport mit Computerspielen), sondern auch in der Wissenschaft feststellen. Dies dokumentiert das gesamte Spektrum wissenschaftlicher Medien, also Blogs, Konferenzen (z. B. »Surprise in and around Organizations: Journeys to the Unexpected«, Tallinn 2018) und Publikationen, etwa Buchreihen (z. B. Springer Complexity), Handbücher (z. B. »The Sage Handbook of Complexity and Management« oder »Handbook of Research Methods in Complexity Science«), Monografien, Artikel in Zeitschriften sowie Themenhefte von Journals, die der Handhabung von Komplexität gewidmet sind. Auch die Zahl der wissenschaftlichen Journals, die »Complexity« als Branding verwenden, nimmt zu: Dies belegen Journals wie z. B. Emergence: Journal of Complexity Issues in Organizations and Management, Complexity, International Journal of Complexity in Applied Science and Technology, Complexity International (1994-2008), Journal of Complexity, Chaos, Solitons & Fractals, Chaos: An Interdisciplinary Journal of Nonlinear Science, Global Journal of Flexible Systems Management, Flexible Services and Manufacturing Journal und Complicity: An International Journal of Complexity and Education. Parallel dazu wurden Institute und Gesellschaften gegründet, deren Namen die Fokussierung auf Komplexität belegen. Hierzu zählen etwa das Complexity Science Research Center (UK), die EMK Complexity Group (UK), The Complexity Society (UK), The Observatory of Economic Complexity (USA), Complexity Science Hub Vienna oder das Santa Fe Institute (USA). Vereinzelt bieten diese Institute auch Veranstaltungen zum Training von Komplexitätskompetenzen an, in Form einzelner Kurse oder von Studienprogrammen, etwa an der RWTH Aachen, der University of Warwick oder dem Santa Fe Institute.

      Die verstärkten wissenschaftlichen Aktivitäten haben sich allerdings nicht in einem Berufsbild des Komplexitätsmanagers niedergeschlagen. Als Relevanzindikator einer Professionalisierung dient jedoch die Tatsache, dass von jedem Manager erwartet wird, sich auch als komplexitätsbewusster Manager zu bewähren.

      Die Wissenschaft stellt zum Umgang mit Komplexität eine Vielfalt von komplexitätsfokussierten Modellen bereit. Sie befassen sich mit Komplexitätskonstrukten, sowohl in Gestalt von »gemachten« Komplexitätskonzepten (z. B. Hybride, etwa Public Private Partnerships) als auch von »gewachsenen« (emergenten) Komplexitätsphänomenen wie Paradoxien oder Frenemies. So geht der Koordinationsmechanismus »Markt« sowohl als emergentes Komplexitätsphänomen (z. B. spontane Ordnung, unsichtbare Hand) als auch als organisiertes Komplexitätskonzept (z. B. Börsen, 2. Arbeitsmarkt, Ausschreibungen, regulierte Märkte, Marktsimulationen, Verrechnungspreise) in die wissenschaftlichen Modelle ein. Im Mittelfeld finden sich freie Märkte mit einer Regelinfrastruktur aus Wettbewerbsgesetzen und Selbstverpflichtungen. Komplexität als Forschungsdomäne bildet den gemeinsamen Nenner für mehrere etablierte komplexitätsfokussierte Forschungssparten, etwa die Forschung zu Konflikten, Diversität, Wachstum, Wandel oder Innovation. Sie befassen sich durchweg mit Komplexitätsaspekten, z. B. mit Gegensätzen zwischen unterschiedlichen Interessen oder mit Übergängen von »Alt« auf »Neu«.

      Die modellseitige Beschäftigung im Rahmen der Wissenschaft und Hand in Hand damit der komplexitätsfokussierte Body of Knowledge erstreckt sich auf begriffliche Konventionen (»Terminologie« image Kap. 1.2), Erklärungs- bzw. Prognosemodelle, also Aussagen über Ursache-Wirkungs- bzw. Prädiktoren-Prädikand-Zusammenhänge (»Theorie«, Know-why image Kap. 1.3) und Gestaltungsmodelle,

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