Zeit zählt. Andrew Abbott

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Zeit zählt - Andrew Abbott Positionen – Sozialforschung weiter denken

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wie der Bevölkerung in hohem Maße eine Funktion ihrer statistischen Zusammensetzung. Und der Grund, warum wir heute glauben, dass sich der soziale Wandel so sehr beschleunigt hat, liegt darin, dass mehr von uns länger leben und entsprechend mehr sozialen Wandel erfahren.

      Das klingt trivial, weil es etwas ist, was wir alle wissen. Wir schreiben aber nicht so, als wüssten wir es. Das heißt, mein Argument über die Wichtigkeit der Historizität impliziert ebenfalls, dass es so etwas wie eine Bevölkerungsbefragung mit unabhängigen Wellen wirklich nicht geben kann. Alle in regelmäßigen Abständen wiederholten Befragungen sind in hohem Maße Befragungen impliziter Panel. Das war es, woran Paul Lazarsfeld dachte, als er behauptete, dass »die Leute bei derselben Wahl abstimmen, aber nicht alle über dieselbe«. Er meinte damit, dass viele Wählerinnen mit ihren jetzigen Stimmen auf politische Anliegen reagieren, die viel früher entstanden sind und die ihre Stimmabgabe schon in mehreren vergangenen Wahlen beeinflusst haben mögen. Es lohnt sich, seine Argumentation ausführlich zu zitieren:

      Wir sollten bedenken, dass diese kompositorischen Implikationen nur unter der Voraussetzung eines vollkommenen Gedächtnisses geradlinig ausfallen werden. Dies wiederum legt nahe, dass wir uns ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen sollten, wann, wie und warum sich die Tiefe und Zuverlässigkeit dieser Art von Gedächtnis verändert. Die Wahlforschung hat sich in der Praxis nicht in diese Richtung entwickelt, diente sie doch überwiegend dem praktischen Zweck, bestimmten Kandidaten zur Wahl zu verhelfen, und konzentrierte sich deshalb auf eine bestimmte Folge der Historizität von Individuen: die Tatsache, dass nur ein relativ kleiner Teil der Wählerschaft seine Position von Wahl zu Wahl ändert. Diese »Wechselwähler« waren – aus pragmatischer Sicht – viel wichtiger als der enorm treue Durchschnittswähler und die Historizität, die seine Treue hervorbrachte.

      Darüber hinaus sollten wir bedenken, dass der Einfluss dieses Gedächtnisses und dieser Kontinuität – dieser Historizität – sehr stark variieren kann, insbesondere im Zusammenhang mit Ereignissen, die in einem typischen Lebenslauf nur sehr selten stattfinden. Wahlen werden mit großer Regelmäßigkeit abgehalten, dementsprechend ist der Einfluss der Historizität – obwohl massiv – im Zeitverlauf relativ stetig. Bei Ereignissen, die nur selten im Leben geschehen, zeigt sich hingegen: Je später im Leben ein Ereignis üblicherweise eintritt, desto kürzer ist der Schatten, den es auf die Gesamtbevölkerung wirft. Die amerikanische Bevölkerung vergaß schnell, dass es einmal eine Welt ohne Medicare gegeben hat, weil sie 1964 nur zu neun Prozent in ihren mittleren Sechzigern war und somit einen Lebensabend ohne Medicare erlebt hatte. Diese wenigen verschwanden rasch, und so entwickelte sich Medicare schon sehr bald zu einem für selbstverständlich gehaltenen Leistungsanspruch. Die Wehrpflicht hingegen, die nur zehn Jahre später (1973) ausgesetzt wurde, hatten 30 Jahre später noch 28 Prozent der männlichen Bevölkerung Amerikas im Kopf, weil eine Einberufung junge Menschen betrifft, sodass 30 Jahre später 28 Prozent aller noch lebenden Männer irgendwann einmal von ihr betroffen waren. Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht könnte mithin leichterfallen als eine Abschaffung von Medicare, weil mehr Menschen, die sich an ihre Einberufung erinnern, noch am Leben sind und folglich einen Präzedenzfall für sie sehen können. Gleichzeitig zeigt dieses Beispiel, dass sie sich ihr aber auch stärker widersetzen könnten, weil sie schlechte Erfahrungen mit ihr gemacht haben. Die Richtung des Einflusses der Historizität steht nicht von vornherein fest. Fest steht lediglich, dass das Gedächtnis in jeder Diskussion über eine Wehrpflicht eine viel größere Rolle spielen wird als in einer Diskussion über Medicare.

      Meine Beispiele der Wahlen und politischen Positionen betreffen das Gedächtnis von Individuen im buchstäblichen Sinne. Eine viel allgemeinere Form von Historizität liefert uns aber die erwerbstätige Bevölkerung. Es handelt sich dabei nicht um die deskriptive Historizität von Erinnerungen und Akten, sondern um eine allgemeine substanzielle Historizität wie die des Körpers.

      Auf eine ganze Kohorte bezogen, ist die Masse dieser substanziellen Historizität zu jeder Zeit ein zentraler Bestimmungsfaktor nicht nur der Erfahrung dieser Kohorte, sondern der der gesamten sie umgebenden Gesellschaft. So bedeutet zum Beispiel die substanzielle Historizität von Rentenkohorten, dass wir uns »die Rente« nicht in einem abstrakten Sinn vorstellen können, selbst wenn

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