Zeit zählt. Andrew Abbott

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Zeit zählt - Andrew Abbott Positionen – Sozialforschung weiter denken

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oder so interessieren wir uns für die sequenzielle Entfaltung der Ergebnisse des Lebens einer Person.2

      Aber die Individuen handeln natürlich, denn sie machen die Erfahrung der verschiedenen, eine Karriere konstituierenden Zwischenergebnisse, während ihre Karriere noch im Gange ist. Und diese Handlungen führen wiederum zu weiteren Ergebnissen dieser Erfahrungen. Ein Ausweg aus der impliziten analytischen Sackgasse der Lebenslaufanalyse besteht deshalb darin, dass wir uns auf diese weiteren Ergebnisse konzentrieren – die Interpretationen und Handlungen, die Arbeitnehmerinnen (üblicherweise kollektiv) auf die größeren sozialen Kräfte reagieren lassen, die sie unter Druck setzen. Es gibt natürlich einen Zweig der Forschungsliteratur, der genau das bereits macht: unsere traditionsreiche Untersuchung der sozialen Bewegungen, in deren Rahmen die Arbeitnehmer auf den Gestaltwandel des Kapitalismus reagieren. Diese Bewegungen sind genau jene sozialen Strukturen, die sich in der Arbeitnehmerschaft herausgebildet haben, um auf den individuellen Druck zu reagieren, der jede und jeder Einzelne von ihnen unterliegt – Druck durch die sozialen Strukturen der Kapitalisten, aber auch durch Aspekte der allgemeinen sozialen Struktur, die sich der Kontrolle der Kapitalisten entziehen – und die wir als das Zusammentreffen von Umständen bezeichnen können.

      Wie die Forschung über die sozialen Bewegungen aber ignoriert auch die Forschungsliteratur zu Lebensläufen ein zentrales Faktum bezüglich der Individuen: die Historizität von Individuen, wie ich es nennen möchte. Ich behaupte, dass diese Historizität eine zentrale Kraft darstellt, die die meisten historischen Prozesse determiniert. Das heißt, ich werde zu zeigen versuchen, dass die schiere Masse an Erfahrung, die Individuen über die Zeit mit sich führen – und die wir uns im demografischen Sinn als gegenwärtigen Niederschlag der Erfahrung vergangener Kohorten vorstellen können –, eine immense soziale Kraft ist. Allzu leicht übersieht man diese gerne auch mal unsichtbare Kraft, eine Blindheit, der wir fast zwangsläufig zum Opfer fallen, wenn wir in historischen Perioden denken, was wir oft tun, sobald wir auf der Ebene von Gruppen arbeiten. Im Grunde verbietet die enorme Kontinuität von Individuen im Zeitfluss eine solche periodische Analyse, wie praktisch sie auch sein mag; die meisten Individuen, die in einer bestimmten Periode leben, lebten auch in der unmittelbar vorangegangenen. Kurzum, Individuen sind für die Geschichte von zentraler Bedeutung, weil sie der vorrangige Speicher historischer Verbindungen von der Vergangenheit zur Gegenwart sind. Das verstehe ich unter der Historizität von Individuen.

      Ich möchte erst einmal noch etwas detaillierter ausführen, was ich unter Historizität verstehe. Zunächst einmal meine ich Kontinuität im Zeitablauf. Und ich behaupte, dass Individuen eine Kontinuität im Zeitverlauf in einem Maß besitzen, die sozialen Strukturen abgeht. Es muss uns klar sein, dass wir diese relative Dominanz der individuellen Kontinuität voraussetzen, wann immer wir die weit verbreitete Feststellung treffen, dass sich der soziale Wandel immer stärker beschleunigt. Diese Feststellung impliziert die Annahme, dass Individuen langlebiger sind als soziale Strukturen, denn nur dann müssen sie die Veränderungen Letzterer ertragen und können das Ausmaß von deren Wandlungsfähigkeit überhaupt wahrnehmen. In einer Welt, der man einen immer rascheren sozialen Wandel bescheinigen kann, muss die historische Kontinuität von Individuen jene Sehne bilden, die Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Es ist die Historizität von Individuen, die es uns ermöglicht – ja, die uns dazu zwingt –, vom sozialen Wandel zu wissen.

      Nun impliziert die Überzeugung, dass sich der soziale Wandel immer mehr beschleunigt, auch die Auffassung, dass das Ungleichgewicht zwischen der Kontinuität des Individuums und jener der Sozialstruktur einmal geringer war als heute. Auch wenn manch einer es womöglich für axiomatisch halten mag, dass Individuen über größere zeitliche Kontinuität verfügen als soziale Strukturen, ist das tatsächliche Verhältnis zwischen individueller und sozialstruktureller Kontinuität wahrscheinlich eine empirische Frage, die zeitlich und örtlich variiert. Ich bin davon überzeugt, dass wir den Grad der historischen Kontinuität als eine empirische Variable denken sollten. Für eine anschauliche Darstellung jedoch werde ich meine Theorie etwas willkürlich in einem stilisierten Verständnis der zeitgenössischen Gesellschaft begründen. In diesem stilisierten Verständnis, so scheint mir, gehen wir selbstverständlich davon aus, dass Individuen »langlebiger« sind als die meisten sozialen Strukturen.

      Diese größere »Langlebigkeit« kann unterschiedliche Dinge betreffen. Auf den ersten Blick scheint es mindestens drei wesentliche Dimensionen einer solchen Historizität zu geben. Die erste von ihnen ist biologisch. Individuen haben Körper, die in einem gewissen Sinne über die Zeit physisch beständig sind. Obwohl sich die Zellen unserer Körper permanent erneuern, ist diese Erneuerung eindeutig ein zielgerichteterer Vorgang als etwa die Erneuerung einer formalen Organisation durch den schrittweisen Austausch ihrer Mitglieder. Körper führen Aufzeichnungen der Vergangenheit in ziemlich buchstäblicher Weise mit sich. Sie bewahren Krankheitsorganismen. Sie bewahren eine implizite Aufzeichnung ihrer vergangenen Ernährung. Sie bewahren die Spuren vergangenen Verhaltens – sei es beruflicher oder sportlicher Natur, seien es Spuren von Drogenmissbrauch oder ungeschütztem Sex. Ihre Immunsysteme bewahren eine Aufzeichnung über verschiedene Pathogene, die in der Vergangenheit auf sie eingewirkt oder nicht eingewirkt haben.

      Nur wenige dieser Dinge werden von irgendeiner sozialen Struktur so genau festgehalten. Die Ehe ist vielleicht die soziale Struktur, die dem Individuum in diesem biologischen Sinn der Historizität am meisten ähnelt, da die verschiedenen Ehepraktiken – der Sexualität, der Hygiene, des Zusammenlebens, der Ernährung usw. – zweifellos zu einer Bündelung eines großen Teils dieser biologischen Erbmasse führen. In diesem wörtlichen Sinne werden Mann und Frau in der Tat zu einem Fleisch. Und wie jede andere dyadische soziale Struktur hängt auch die Ehe in ziemlich buchstäblicher Weise vom biologischen Leben der beiden beteiligten Individuen ab. Sie stirbt mit jedem der beiden, sodass auch sie somit langfristig immer tot ist. Ein wenig gleicht die Ehe also in ihrer biologischen Historizität den Individuen.

      Über Beziehungen wie die Ehe hinaus weisen die meisten sozialen Strukturen nichts auf, was dieser physischen Kontinuität gleichen würde. Die Teilnehmerinnen ändern sich. Regeln und Praktiken unterliegen einem permanenten Wandel. Selbst die sozialen Strukturen, die mehr oder weniger um biologische Gemeinsamkeiten oder eine gemeinsame biologische Geschichte konstruiert werden – soziale Geschlechter, Verwandtschaftsstrukturen, Lobbyverbände für verschiedene Krankheiten usw. –, verfügen nicht über die relativ umfassende, aber nichtsdestotrotz gezielte biologische Kontinuität, die das Individuum auszeichnet.

      Somit ist die Historizität des Individuums in ihrem ersten Sinne biologisch. Biologische Individuen führen eine gewaltige Menge an historischer Erfahrung mit sich, die einigermaßen buchstäblich in und auf ihren Körpern eingeschrieben ist. In ihrem zweiten Verständnis ist die Historizität von Individuen eine des Gedächtnisses. Sie entsteht mit der eigentümlichen Konzentration von Erinnerungen in biologischen Individuen. Damit meine ich nicht unbedingt, dass sich soziale Strukturen an nichts erinnern können. Ich habe kein Problem mit der Vorstellung,

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