Zeit zählt. Andrew Abbott

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Zeit zählt - Andrew Abbott Positionen – Sozialforschung weiter denken

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Der Unterschied besteht freilich darin, dass die Erinnerungen individueller Menschen in einer Weise in ihrem biologischen Selbst konzentriert sind, wie das die Erinnerungen sozialer Strukturen nicht sind. Viele – vielleicht sogar die meisten – der weltweit bestehenden Erinnerungen an Andrew Abbott sind in meinem Kopf versammelt. Zwar existieren Hunderttausende solcher Erinnerungen andernorts – in den Köpfen meiner Lehrer, Klassenkameraden, Kolleginnen, Freunde, Studierende, Verwandte, Versicherungsvertreter und vielleicht sogar in dem der Kontrolleurin, die kürzlich meine Zugfahrkarte entwertete. Für die Sozialtheorie ist es entscheidend, sich daran zu erinnern, dass das Selbst in diesem Sinn über die gesamte soziale Landschaft verteilt und nicht absolut an einem einzigen biologischen Ort versammelt ist.

      Trotzdem ist das individuelle Gedächtnis weniger durchlässig als die Gedächtnisse einer sozialen Struktur. Wie gerade gesagt, befindet sich ein beträchtlicher Teil der gesamten Masse von Erinnerungen mit Bezug auf Andrew Abbott in meinem Kopf. Die Erinnerungen sozialer Strukturen wie der SSHA hingegen sind einigermaßen gleichmäßig auf die Gehirne Tausender Mitglieder und ehemaliger Mitglieder und Leserinnen unserer Zeitschrift, von Mitarbeitern der Hotels, in denen wir unsere Jahresversammlungen abhalten, usw. verteilt. Es gibt nicht das eine Sensorium, in dem so etwas wie eine Mehrheit oder auch nur eine beträchtliche Zahl dieser Erinnerungen angesiedelt ist. Selbst unser Vorstandsvorsitzender verfügt nur über einen winzigen Bruchteil der gesamten Erinnerungen der Welt an die SSHA. Diese Verteilung des Gedächtnisses bedeutet nicht, um es zu wiederholen, dass die SSHA kein Gedächtnis hat. Ganz im Gegenteil. Wenn ein politisches Problem auftaucht, das organisatorische Präzedenzfälle berührt, gibt es ein sehr umfangreiches organisatorisches Gedächtnis – das sich manchmal wechselseitig stützt, manchmal aber auch widerspricht, mal klarer, mal schwächer, aber stets auf viele verschiedene Personen verteilt ist. Dieses Gedächtnis ist jedoch, obgleich umfangreich, ziemlich weit und relativ gleichmäßig verteilt. Erinnerungen von Individuen hingegen sind relativ stark konzentriert. Das vergrößert den Einfluss ihrer Kontinuität erheblich.

      Man könnte nun anmerken, dass das Gedächtnis einer Organisation deshalb breit gestreut ist, weil es in diversen weit verstreuten Akten enthalten ist. Diese Akten bilden einen dritten Vektor der Historizität, denn ihr ganzer Zweck besteht in der wortwörtlichen Aufzeichnung – und damit der Historisierung – einer sozialen oder individuellen Entität. Anders als im Fall der biologischen und der erinnerungsbezogenen Historizität mag es schwierig sein zu behaupten, dass die aufgezeichnete Historizität von Individuen über die von sozialen Strukturen hinausgeht. Als Rechtswesen verfügen Personen jedoch ungefähr über dieselbe historische Dauer wie Unternehmen, die letzten Endes personae fictae sind. Es gibt somit ein rechtliches Wesen, das mich ausmacht, eine lockere Zusammensetzung aus Dokumenten, die meine Geburt, Hochzeit, Besitzverhältnisse und Verbindlichkeiten, vertraglichen Verpflichtungen, meinen Wehrdienst, meine Bonität, meine staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten usw. verzeichnen. Dieses rechtliche Wesen entspricht annähernd dem rechtlichen Wesen eines Unternehmens, das in ähnlichen Dokumenten über seine Gründung, Fusionierung, sein Eigentum und seine Verbindlichkeiten, vertraglichen Verpflichtungen usw. festgehalten ist. Während Unternehmen somit eine rechtliche Historizität ähnlich der von Individuen aufweisen, kann die ihre jedoch in willkürlicher Weise beendet und begrenzt werden, was mit der rechtlichen Historizität einer Person nicht möglich ist. Somit geht selbst Unternehmen die rechtliche Historizität natürlicher Individuen ab, obwohl sie – wie alle wahrhaft sozialen Entitäten – Individuen zeitlich überdauern können.

      Überdies sind soziale Strukturen in ihrer überwiegenden Mehrzahl keine Unternehmen oder auch nur formale Organisationen. Sie sind vielmehr so etwas wie Wohnviertel, Berufe, Lesezirkel, Kirchengemeinden, soziale Klassen, Ethnien, Technikgemeinden und Konsumgruppen: oft desorganisiert oder unorganisiert, aber trotzdem folgenreich als soziale Strukturen. Häufig verfügen sie über keine formalen Akten. Wenn sie es doch tun, dann sind dies häufig Akten sehr unterschiedlicher Art, die sich im Lauf der Zeit rasch ändern. Und selbst ihre nicht aufgezeichneten Erinnerungen sind über diverse Personen verstreut, die in vielfältigen Verhältnissen zu ihnen stehen. Nur die wenigsten Mitglieder dieser Gruppen stehen in mehr als minimaler Verbindung mit der gesamten Menge dieser Erinnerungen.

      Solche sozialen Strukturen sind von recht durchlässiger Historizität. Ihr Riesenwirrwarr an Erinnerungen ist weder in einer Handvoll Personen noch in einem Rechtswesen verkörpert. Weil ihre Erinnerungen breit gestreut und ihre Akten oft dünn sind, können sich solche Strukturen schnell und leicht verändern. Es gibt wenig, was sie über die Zeit zusammenhält. Die Soziologie beispielsweise ist als Fach seit rund einem Jahrhundert so etwas wie eine soziale Realität. In diesem Zeitraum hat sie sich ziemlich schnell von einer progressiven und explizit religiösen Interessengemeinschaft aus Weltverbesserern, Reformerinnen und politischen Universitätsgelehrten in eine Gruppe hochprofessioneller Sozialwissenschaftlerinnen mit einem exklusiven Fachverband mit dem Ziel verwandelt, Lehrkräfte auszubilden. Dieser Wandel gründet vor allem in der Leichtigkeit, mit der das Fach seine Vergangenheit vergessen kann – eine Vergangenheit, die heute still und leise in den Köpfen emeritierter Kolleginnen und Kollegen erlischt.

      In einer ersten Annäherung besteht Historizität also in biologischer, erinnerter und aufgezeichneter Kontinuität. Es gibt zumindest ein denkbares Argument dafür, dass die Gesamtmasse dieser Historizität von Individuen gegenwärtig größer ist als die aller sozialen Strukturen, von einer kleinen Handvoll abgesehen. Doch was folgt daraus? Die erste Konsequenz ist, dass »größere soziale Kräfte« das Individuum im sozialen Prozess nicht mehr überragen. Sie überragen einzelne Individuen, wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen. Sie überragen aber nicht die große Masse individueller Historizität. Denn während ein einzelnes Individuum leicht vom Tod ausgelöscht werden kann, gilt dies für die große Masse der Individuen nicht. Und diese Masse enthält zudem einen enormen Speicher an Kontinuität mit der Vergangenheit. Diese Kontinuität trotzt den »großen sozialen Kräften« unserer Argumentationen – der Entwicklung der Arbeitsteilung, dem technologischen Fortschritt, der Herausbildung des Kapitalismus – mit einem gewaltigen störrischen, recht spezifischen menschlichen Material, das erheblich einschränkt, was jene großen Kräfte tatsächlich bewirken können.

      Diese Kontinuität bedeutet zum Beispiel, dass wir keine Geschichte von Perioden schreiben können, wie wir das für gewöhnlich mit der Geschichte einer Bevölkerung tun: das Jazz-Zeitalter, die Weltwirtschaftskrise, die 1960er, die Reagan-Jahre usw. Diese Vorgehensweise erweckt den Eindruck, als seien die historischen »Selbste« einer sozialen Struktur wie »Die Vereinigten Staaten von Amerika« eine Aufeinanderfolge von Schnappschüssen. Die meisten Menschen jedoch, die wir in aneinandergrenzenden Schnappschüssen dieser Sequenz sehen, sind natürlich dieselben. Von dem Bevölkerungsanteil, der die Tiefen der Depression als Arbeiter durchlebte – den Menschen, die 1930 mindestens 15 Jahre alt waren –, waren bereits 1920 rund drei Viertel mindestens 15 Jahre alt. Das heißt: Die meisten Menschen, die in der Weltwirtschaftskrise lebten und arbeiteten, hatten auch in der Jazz-Ära gelebt und gearbeitet. (Dieser Definition zufolge waren tatsächlich rund die Hälfte von ihnen bereits 1910 Arbeiter gewesen, obwohl natürlich nicht unbedingt in den Vereinigten Staaten.) Die Weltwirtschaftskrise betraf also im Wesentlichen Menschen, die Perioden echten Wohlstands erlebt hatten. Diese Tatsache ist offensichtlich, aber trotzdem wichtig, da die Erfahrung der Depression ohne sie nicht zu verstehen ist.

      Mit zunehmendem Alter der Bevölkerung wird dieser Speicher von Erinnerungen tiefer und tiefer. Das Medianalter ist in den USA im Lauf des letzten Jahrhunderts von 23 auf 36 und die 75. Altersperzentile von etwa 39 auf 51 gestiegen. Die Implikationen für das soziale Gedächtnis sind enorm. 2003 waren 30 Jahre seit dem großen Wendepunkt von 1973 vergangen – dem Jahr, das das Ende des Vietnamkrieges, das Ende der Bretton-Woods-Vereinbarungen, die erste Ölkrise und die Watergate-Anhörungen brachte. Jedoch waren 43 Prozent der Bevölkerung von 2003 im Jahr 1973 mindestens zehn Jahre alt gewesen und konnten sich insofern an das vorangegangene Zeitalter erinnern, jene Zeit, die man in Frankreich als les trentes glorieuses bezeichnet, die 30 herrlichen Jahre von Wirtschaftswachstum und Egalitarismus nach dem Zweiten Weltkrieg. 30 Jahre nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg hingegen waren nur 24 Prozent der Lebenden bei Kriegsende bereits mindestens zehn

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