Kritik der Ungleichheit. Frederick Neuhouser
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Zweifellos ist die Behauptung, Mitleid gehöre ebenfalls zur ursprünglichen Natur des Menschen, sowohl was uns selbst als auch was Rousseaus Zeitgenossen betrifft, sehr viel umstrittener, und möglicherweise widmet er darum den sie stützenden Argumenten größere Aufmerksamkeit. Erstens ist Rousseau darauf bedacht, mehrere Beispiele für ein uns vertrautes menschliches Verhalten vorzulegen, die ohne die These des natürlichen Mitleids nur sehr schwer zu erklären sind. Ein offensichtliches Beispiel ist das der Mütter, die ihre eigenen Interessen – im Extremfall ihr Leben – dem Wohl und der Geborgenheit ihrer Kinder unterordnen. Da seine Leser geneigt sein könnten, dies für einen Sonderfall zu halten, der auf Frauen oder auf die sehr enge Bindung beschränkt ist, die Eltern zu ihrem Nachwuchs haben, bedarf es weiterer Beispiele. Diese findet Rousseau in einer Mandeville entlehnten Szene, in der ein persönlich nicht betroffener (und männlicher) Betrachter sieht, wie ein wildes Tier ein Kind von der Brust der Mutter reißt, aber auch in der wohl bekannten Tatsache, dass Theaterbesucher sich von unbekannten, ja sogar fiktiven Charakteren, deren Leiden auf der Bühne dargestellt werden, zu Tränen rühren lassen. Zweitens werden diese Überlegungen, wie schon im Fall des amour de soi-même, durch Überlegungen darüber bekräftigt, wie auch das Mitleid dazu beiträgt, die Naturzwecke zu erfüllen: Wenn der amour de soi-même der Erhaltung der Individuen dient, so dient unsere Empfänglichkeit für den Schmerz anderer einem noch größeren Naturzweck: Indem es uns »dazu bringt, ohne Nachdenken denen zur Hilfe zu kommen, die wir leiden sehen«, trägt es »zur wechselseitigen Erhaltung der ganzen Gattung« bei (DU, 175 f. / OC III, 166). Diese Betrachtung ist eng mit Rousseaus These verbunden, dass das menschliche Verhalten zumindest im ursprünglichen Naturzustand von einem einzigen, sehr allgemeinen Zweck geleitet wird: »die Liebe zum Wohlbefinden ist der einzige Beweggrund der menschlichen Handlungen« (DU, 197 / OC III, 166). Das vom amour de soi-même angestrebte Wohlbefinden ist unser eigenes, das vom Mitleid angestrebte dasjenige anderer.
Nachdem er die Grundelemente der ursprünglichen Natur des Menschen dargelegt und gezeigt hat, dass es im Naturzustand friedlich und freundlich zugeht, führt Rousseau eine, wie es scheinen könnte, dritte natürliche Anlage ein: die sexuelle Leidenschaft (DU, 179 – 183 / OC III, 157 ff.). Ein großer Teil seiner Erörterung ist der einleuchtenden Ansicht gewidmet, der rein animalische Sexualtrieb (das, was am Gefühl der Liebe körperlich ist) sei, da er von Meinungen und Vorstellungen unberührt bleibt, weniger machtvoll und zerstörerisch als die sexuelle Leidenschaft – das »moralische« Element der Liebe, eng verwoben mit der Liebe für ein bestimmtes Individuum und Urteilen über den persönlichen Wert sowohl des Liebenden als auch des Geliebten –, die den Grund für so viel Eifersucht und sexuelle Rivalität unter »zivilisierten« Wesen abgibt. Was an Rousseaus Erörterung der Geschlechtlichkeit für größere Verwirrung sorgt, zeigt sich jedoch erst auf einer fundamentaleren Ebene.33 Wie sich das sexuelle Verlangen in die beiden Kategorien der zuvor unterschiedenen natürlichen Anlagen einfügt, ist, zum Teil weil er dazu nichts sagt, schwer zu erkennen: Bezieht es seine Antriebskraft aus dem amour de soi-même oder aus dem Mitleid? Die zunächst einleuchtendere Alternative sieht im Sexualverlangen eine Unterart des amour de soi-même, da die Lust, die das sexuelle Verhalten dem es auslebenden Individuum verschafft, zweifellos das entscheidende Motiv dafür ist. Das sexuelle Verlangen unterscheidet sich jedoch von den anderen mit dem amour de soi-même verbundenen Naturtrieben – Hunger, Durst, Schlafbedürfnis – darin, dass seine Befriedigung für das Wesen, das ihm nachkommt, nutzlos ist. Das heißt, jenseits der damit einhergehenden Lust erzeugt das Sexualverlangen für das befriedigte Individuum selbst kein Gut. Zweifellos erfüllt das Sexualverlangen einen Naturzweck der Gattung (die biologische Reproduktion), doch in dieser Hinsicht ist es dem Mitleid ähnlicher als dem amour de soi-même. Vermutlich ist der beste Schluss, zu dem wir hier kommen können, der, dass seine Motivation das rein natürliche Sexualverlangen in die Nähe des amour de soi-même rückt – was Naturgeschöpfe dazu antreibt, sexuelle Beziehungen zu suchen, ist das Versprechen der Lust –, doch hinsichtlich des natürlichen Guts, das solche Wesen dadurch verwirklichen, gleicht es eher dem Mitleid (selbstverständlich geschieht dies »mechanisch«, ohne dass sie notwendig dieses Gut hervorbringen wollen oder sich um es kümmern). (Sowohl der Emile (E, 438 – 444 / OC IV, 489 – 494) als auch der zweite Teil des Zweiten Diskurses (DU, 203 ff. / OC III, 169) machen deutlich, dass die sexuelle Leidenschaft des Menschen im Unterschied zum animalischen Verlangen notwendigerweise mit dem amour propre einhergeht, jener Form von Selbstliebe, die Rousseau nur im zweiten Teil einführt.)
Neben diesen beiden Anlagen gehören zur ursprünglichen Natur des Menschen zwei Vermögen – das eine kognitiv, das andere voluntativ –, die unabhängig von allen sozialen und historischen Entwicklungen existieren. Wir tun gut daran, nur das Gegebensein dieser Fähigkeiten, nicht aber ihr Wirken, als natürlich oder angeboren zu begreifen, denn wenn es an allen gesellschaftlichen Beziehungen fehlt, wäre die eine vollkommen latent und die andere würde auf die allerdünnste der Funktionen reduziert. Anzumerken ist hier, dass Rousseau diese beiden Vermögen als spezifisch menschliche betrachtet, während er von den zwei oben erörterten Anlagen der ursprünglichen Natur des Menschen meint, sie seien den menschlichen und nicht-menschlichen Tieren gemeinsam. Damit ist zugleich gesagt, dass, was auch immer die menschliche von der bloß animalischen Existenz unterscheidet, seine letzte Quelle nicht im amour de soi-même oder im Mitleid haben kann, sondern in diesen beiden Vermögen und den Veränderungen, die sie unter den künstlichen, von der Gesellschaft und der Geschichte erzeugten Bedingungen erfahren.
Das erste dieser natürlichen Vermögen ist die Vervollkommnung, die der menschlichen Gattung eigentümliche »Fähigkeit, sich zu vervollkommnen« (DU (a), 335 / OC III, 211). Im Kern besteht die Vervollkommnung aus einem Ensemble latenter, gattungsspezifischer kognitiver Vermögen – darunter die Fähigkeit der Sprache, des Denkens und der Vorstellungskraft –, die zwar von Geburt an gegeben sind, aber so lange schlummern, wie ihre Entwicklung nicht durch komplexere Umstände angestoßen wird (DU, 107 f., 189 / OC III, 142, 162).34 In seiner Erörterung der Vervollkommnung unterscheidet Rousseau sorgfältig zwischen latenten Fähigkeiten einerseits – den rein natürlichen Gaben, die es einem besonderen Geschöpf im Prinzip erlauben, eine bestimmte Fertigkeit oder Kompetenz zu erwerben – und verwirklichten Fähigkeiten andererseits – darunter die durch einen Entwicklungsprozess erworbene faktische Befähigung, die betreffenden kognitiven Funktionen auszuführen. Er ist gleichermaßen sorgfältig darauf bedacht, nur die erstgenannten in die Vervollkommnung aufzunehmen und damit nur diese nackten, unverwirklichten Fähigkeiten der ursprünglichen Natur des Menschen zuzuschreiben: »[O]bschon das Organ der Sprache dem Menschen natürlich ist, [ist] die Sprache selbst ihm gleichwohl nicht natürlich« (DU, 333 UTB/ OC III, 210). Wie Rousseau nicht müde wird zu betonen, ist für jedwede Entwicklung dieser natürlichen