Kritik der Ungleichheit. Frederick Neuhouser

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Kritik der Ungleichheit - Frederick  Neuhouser Blaue Reihe

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ewig in seinem ursprünglichen Zustand verblieben wäre« (DU, 189 / OC III, 162). Der Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren in Bezug auf die kognitiven Fähigkeiten, die zur Vervollkommnung gehören, ist daher, um ein besonderes Beispiel zu nehmen, nicht der, dass Menschen immer eine Sprache besitzen oder zwangsläufig eine entwickeln, während das auf andere Tiere nicht zutrifft: der Unterschied liegt vielmehr darin, dass Menschen das angeborene Potential haben, unter den richtigen äußeren Umständen Sprache zu entwickeln und zu verwenden, während anderen Tieren, gleichgültig unter welchen Umständen sie leben, dieses Potential vollständig abgeht.35

      Wie viele Kommentatoren bereits angemerkt haben36, ist Vervollkommnung – ein Kunstwort, das Rousseau selbst in den philosophischen Diskurs eingeführt hat (OC III, 1, 317 f.) – ein potentiell irreführendes Wort für das, was es bezeichnen soll. Es bezieht sich beispielsweise nicht auf angeborene Neigungen oder einen Trieb des Menschen, sich und seine Lage im Laufe der Zeit zu verbessern, sich immer mehr dem Zustand der »Vollkommenheit« anzunähern. Um welchen Typ von Vollkommenheit es sich hier auch handeln mag, ganz sicherlich geht es nicht um moralische Vollkommenheit. Im Gegenteil: Rousseau zieht ernsthaft die Möglichkeit in Erwägung – und bekräftigt diese Überlegung in einem engeren Sinn im zweiten Teil –, dass »diese uns auszeichnende, fast unbegrenzte Fähigkeit die Quelle alles Unglücks des Menschen ist« und die Ursache »seiner Irrtümer, seiner Laster« (DU, 109 / OC III, 142). Mit anderen Worten, der ursprünglichen Natur des Menschen das Vermögen der Vervollkommnung zuzuschreiben, bringt in keiner Weise eine optimistische Einstellung zum Schicksal des Menschen zum Ausdruck, und ebenso wenig verbirgt sich dahinter eine Behauptung über seine angeborene Güte oder seine Neigung, sein natürliches Potential zu verwirklichen. Die unübersehbaren teleologischen Konnotationen des Wortes sollten stattdessen sehr schwach ausgelegt werden: Menschen besitzen von Natur aus eine Reihe latenter kognitiver Fähigkeiten, die prinzipiell in dem verhältnismäßig mageren Sinn vervollkommnet werden können, dass sie eine qualitative Entwicklung vom Einfacheren zum Komplexeren durchlaufen.37 Um es noch einmal zu sagen: »Vervollkommnung« beinhaltet nicht, dass es eine einzige, festgelegte Form oder ein Telos gibt, auf das hin sich jede Fähigkeit unter idealen Bedingungen entwickeln sollte, und auch nicht, dass es eine der menschlichen Natur innewohnende Anlage gibt, die eine solche Entwicklung notwendig oder auch nur wahrscheinlich machte.

      Strenggenommen schließt Vervollkommnung etwas mehr als die verschiedenen kognitiven Fähigkeiten ein, von denen oben die Rede war. Über sie wird gesagt, sie sei selbst eine Fähigkeit – eine »Fähigkeit, sich selbst zu vervollkommnen« (faculté de se perfectionner). Es ist alles andere als offensichtlich, woran Rousseau denkt, wenn er den Menschen zusätzlich zu ihren besonderen kognitiven Vermögen noch eine allgemeine Fähigkeit, sich selbst zu vervollkommnen, zuspricht. Sie ist, um es noch einmal zu wiederholen, kein innerer Entwicklungstrieb, denn Rousseau beharrt darauf, dass eine Entwicklung der Menschen möglicherweise nie aufgetreten wäre, wenn es an zufälligen äußeren Umständen gefehlt hätte. Liest man akribisch alle Absätze, die seine Aussage, Vervollkommnung sei selbst eine Fähigkeit – und nicht bloß eine Ansammlung spezifischer latenter Vermögen – umgeben, drängt sich der Eindruck auf, das Entscheidende an dieser Behauptung liege in der allgemeinen These, die menschliche Gattung sei im Gegensatz zu allen anderen Tiergattungen in dem Sinn äußerst formbar, als soziale und historische Umstände imstande sind, sie auf vielfältige und grundlegende Weise so zu verändern, dass der Mensch von heute der im allerersten Absatz des Zweiten Diskurses erwähnten Statue des Glaukus gleicht. Wie diese von der Zeit und den Stürmen mitgenommene Statue haben sich die heutigen Menschen »durch all die Veränderungen hindurch, die der Lauf der Zeit und der Dinge in seiner [des Menschen] ursprünglichen Beschaffenheit bewirken«, so sehr gewandelt, dass ihre ursprüngliche Natur »sozusagen bis zur Unkenntlichkeit« entstellt worden ist (DU, 63 ff. / OC III, 122). (Dass unsere ursprüngliche Natur unter den gegenwärtigen Umständen nur sozusagen unkenntlich ist, ist deshalb so wichtig, weil anderenfalls die für Rousseau so entscheidende Aufgabe, diese Natur zu erkennen, unerfüllbar wäre. Rousseaus Behauptung in diesem Sinne aufzufassen, fügt der These von der Vervollkommnung inhaltlich nicht viel Neues hinzu, warum sie aber dennoch besondere Aufmerksamkeit verdient, ist nicht schwer zu sehen: Dieser Aspekt der Vervollkommnung ist für das Hauptunterfangen des Zweiten Diskurses wesentlich, denn die ungeheure Formbarkeit der menschlichen Gattung – ihr erstaunliches Vermögen, sich auf nahezu unbegrenzt vielfältige Weise zu entwickeln und neue Charakteristika und Fähigkeiten zu erwerben – ist hier für Rousseaus Behauptung unverzichtbar, die soziale Ungleichheit sei, obwohl sie überall in der uns bekannten Welt zu beobachten ist, kein notwendiges Produkt der Natur – oder der Natur des Menschen – selbst.

      Bei dem zweiten Vermögen, das Rousseau der ursprünglichen Natur des Menschen zuschreibt, handelt es sich um eine primitive Form des freien Willens – um ein »Vermögen … des Wählens« –, die er als die Fähigkeit beschreibt, dem, was wir als Instinkt38 oder Antrieb der Natur bezeichnen könnten, zu folgen oder zu widerstehen: »Die Natur befiehlt jedem Wesen, und das Tier gehorcht. Der Mensch fühlt gleichfalls ihr Drängen, aber er erkennt sich als frei, um nachzugeben oder zu widerstehen« (DU, 107 / OC III, 141 f.). Bei der Einführung dieses Merkmals der ursprünglichen Natur des Menschen macht Rousseau klar, dass diese Art von Freiheit den Menschen zuzusprechen heißt, ihnen eine »metaphysische« Eigenschaft beizulegen (DU, 105 / OC III, 141). Er versteht darunter eine Eigenschaft, die den Menschen über das Reich der reinen Natur – und damit über alle anderen Tiere – erhebt, da dieses als ein Bereich zu verstehen ist, der ausschließlich von deterministischen Kausalgesetzen beherrscht wird: »[I]n dem Vermögen des Wollens … hat man nur rein geistige Akte vor sich, über die man nichts vermittels der Gesetze der Mechanik ausmacht« (DU, 107 / OC III, 142).

      Geschöpfen, denen es an Sprache und Vernunft gebricht, einen freien Willen zuzusprechen ist, wie Rousseau erkennt, eine heikle Sache. Aus diesem Grund ist er darauf bedacht, den freien Willen, wie er der ursprünglichen Natur des Menschen eigen ist, so dünn wie möglich zu charakterisieren. In der Regel kennzeichnet er unser ursprüngliches Vermögen, frei zu handeln, durch einen Mangel, nämlich das Fehlen derjenigen Instinkte, die das Verhalten anderer, nicht-menschlicher Tiere mit strenger Notwendigkeit festlegen: Während »das Tier nicht den ihm vorgegebenen Gesetzen entgehen kann«, kann der Mensch, selbst der primitivste, frei, ohne dazu genötigt zu sein, wählen, ob er dem Drängen der Natur nachgibt oder es missachtet (DU, 107 / OC III, 141). Wenn er dem Menschen als Teil seiner ursprünglichen Natur einen freien Willen zuschreibt, möchte Rousseau uns damit ein angeborenes Vermögen beilegen, das weder durch Ursachen noch durch Gründe ausreichend bestimmt ist, das heißt eine Spontaneität, die sich am besten dadurch kennzeichnen lässt, dass sie nicht gezwungen ist, auf die Anreize der Natur auf vorherbestimmte Weise zu reagieren. Selbstredend wird der freie Wille, sobald er wie die anderen ursprünglichen Merkmale des Menschen eine Entwicklung durchlaufen hat, unter zivilisierten Bedingungen ganz anders als die nackte Form aussehen, die er in primitiven Geschöpfen annimmt. Der freie Wille, so wie er uns im zweiten Teil des Zweiten Diskurses entgegentritt, besteht darin, diejenigen unter den eigenen Wünschen auszuwählen, die man in Übereinstimmung mit seinen »Überzeugungen« über die eigene Person und die von ihr präferierten Güter befriedigt.39 (Im Gesellschaftsvertrag wird Rousseau auf eine noch komplexere Form der Freiheit hinweisen, auf eine, die Menschen nur besitzen, wenn sie unter gerechten politischen Institutionen leben: eine Art von Autonomie, die darin besteht, seine Handlungen an selbst aufgestellten Gesetzen auszurichten (GV, 1.8). Der Zweite Diskurs, in dem Autonomie nicht vorkommt, liefert den negativen Teil von Rousseaus Begründung der These, die höchste Form der Freiheit sei nur innerhalb einer rechtmäßigen Republik möglich.)

      Während es verhältnismäßig unproblematisch ist, dass Rousseau der ursprünglichen Natur des Menschen Vervollkommnung zuschreibt– schließlich sehen wir die ihn interessierenden latenten Vermögen bereits in realen Menschen verwirklicht –, ist seine Position hinsichtlich des freien Willens im Naturzustand umstrittener, insbesondere seine Behauptung, auch ohne Sprache und Vernunft sei es möglich, eine freie Wahl zu treffen. Bevor wir Rousseaus Behauptung verwerfen,

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