Kritik der Ungleichheit. Frederick Neuhouser
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Читать онлайн книгу Kritik der Ungleichheit - Frederick Neuhouser страница 18
Das führt uns unmittelbar zu dem, was ich oben den zweiten Teil der Rousseau’schen These genannt habe, dass soziale Ungleichheiten ihre Quelle nicht in der Natur haben: die Behauptung, es gebe keine notwendigen oder unveränderlichen Eigenschaften der äußeren Welt, auf die Menschen um der Befriedigung ihrer natürlichen Bedürfnisse willen so reagieren müssen, dass sie jenseits der Ungleichheiten, mit denen sie geboren worden sind, weitere Ungleichheiten schaffen. Die vorausgegangenen Überlegungen haben deutlich gemacht, dass Rousseaus Einspruch gegen die Behauptung, soziale Ungleichheiten hätten ihre Quelle in der Natur, von einer Annahme über das Ausmaß und die Bedeutung natürlicher Knappheit abhängt, eine Annahme, die sich in seiner Beschreibung des ursprünglichen Naturzustands als eines des Überflusses niederschlägt, wodurch Arbeit, Kämpfe und Privateigentum sowohl unnötig als auch unerwünscht sind (DU, 83 – 87 / OC III, 134 f.). Viele Leser sind geneigt, Rousseaus Aussagen über die natürliche Fruchtbarkeit der Erde als Ausdruck eines naiven und ungerechtfertigten Glaubens an die Güte der Natur abzutun. Um die Zulässigkeit seiner Annahme zu beurteilen, muss man sich jedoch klar vor Augen führen, was genau sie beinhaltet und welche Rolle sie in seiner Darlegung des Ursprungs der Ungleichheit spielt.
Wenn Rousseau vom Überfluss als natürlicher Bedingung ausgeht, dann will er damit nicht bestreiten, dass irgendeine Art von Knappheit in den menschlichen Angelegenheiten von herausragender Bedeutung ist und daher von der Sozialphilosophie ernstgenommen werden muss. Der Witz seiner Behauptung liegt vielmehr darin, die Art von Knappheit zu benennen, die einen so herausragenden Stellenwert in der menschlichen Gesellschaft einnimmt, und ihre Quelle sozusagen dingfest zu machen. Rousseaus These ist die, dass der Großteil der Knappheit, von der die realen menschlichen Gesellschaften betroffen sind, nicht natürlichen, sondern sozialen Ursprungs ist. Sie ist, mit anderen Worten, keine notwendige Folge allgemeiner Tatsachen der menschlichen und nichtmenschlichen Natur, sie ist stattdessen ein Produkt der Gesellschaft, und das heißt: Sie entspringt sozialen Einrichtungen, die ihrerseits (größtenteils unvorhergesehene) Folgen der Handlungen und Überzeugungen von Menschen sind, die, gerade weil sie frei sind, auch anders hätten ausfallen können. Obgleich Rousseau die Möglichkeit einer natürlichen Knappheit einräumen kann, ist er dazu verpflichtet, sie als ein unveränderliches oder grundlegendes Merkmal der Lage des Menschen abzulehnen. Hinzukommt, dass, sofern sie existiert – immer dort, wo die reale Knappheit teilweise auf rein natürliche Faktoren zurückgeht –, sie verglichen mit der Knappheit, die ihre Quelle in sozialen, von Menschen geschaffenen Umständen hat, vernachlässigbar ist. Wenn Rousseau begeistert den Überfluss des Naturzustands beschreibt, sollten wir ihn nicht so verstehen, als treffe er eine Tatsachenaussage über die natürliche Verfügbarkeit von überlebensnotwendigen Ressourcen. Stattdessen schlägt er eine Art theoretischer Abstraktion vor. (Wiederum ist es wichtig, sich die hypothetische und analytische Funktion des Naturzustands vor Augen zu führen.) Mithilfe der Annahme eines natürlichen Füllhorns, die durch das Ausblenden des Beitrags der Natur zur Knappheit zustande kommt, soll unser Blick von dem Typ von Knappheit abgelenkt werden, der normalerweise, aber zu Unrecht vom Common Sense für den einzigen und bedeutendsten gehalten wird, um so ausschließlich den Typus ins Auge zu fassen, von dem Rousseau meint, er würde für den weitaus größten Teil der Knappheit aufkommen, die zur Herstellung von Ungleichheiten in den realen Gesellschaft beiträgt – und eben diese substantielle These liegt seiner Annahme eines natürlichen Überflusses zugrunde. So gesehen veranschaulicht Rousseaus Einstellung zur Knappheit eine allgemeine Tendenz seines Denkens, nämlich zur Entnaturalisierung und damit zur Entmystifizierung des Sozialen.50 In diesem Fall besteht die Entnaturalisierung der Knappheit in dem Nachweis, dass Knappheit in keiner der zwei möglichen Bedeutungen der Natur entspringt: Erstens findet sich in der Verfassung der Natur selbst – der Beziehung zwischen den biologischen Bedürfnissen des Menschen und den natürlichen Ressourcen der Erde – oder zweitens im Charakter des unsozialisierten Mitleids und des amour de soi-même nichts, was erklären würde, warum Knappheit ein notwendiges oder weitverbreitetes Merkmal des sozialen Lebens der Menschen ist. Die Stoßkraft dieses Arguments hängt weitgehend von der Erkenntnis ab, wie im zweiten Teil die Einführung von künstlichen sozialen Bedingungen und einer »nicht-natürlichen« Leidenschaft Rousseau in die Lage versetzt, eine Erklärung für die machtvolle Neigung der Menschen anzubieten, Knappheit – aller möglichen Typen und großen Ausmaßes – zu produzieren und folglich darzulegen, warum im Gesellschaftszustand weitreichende Ungleichheiten nahezu unvermeidlich sind.
Wir sind jetzt in der Lage, die in Teil I des Zweiten Diskurses dargelegten Hauptelemente von Rousseaus Argument zusammenzufassen, dass nicht die Natur die Quelle sozialer Ungleichheit ist. Seine Argumentation lässt sich als Zurückweisung dreier möglicher natürlicher Erklärungen der sozialen Ungleichheit – wie auch aller Kombinationen der drei – verstehen. Erstens sind soziale Ungleichheiten nicht die unmittelbaren oder notwendigen Folgen natürlicher Ungleichheiten. Obwohl es Letztere gibt, erklären sie weder die Existenz sozialer Ungleichheiten im Allgemeinen noch warum bestimmte Individuen die Stellung einnehmen, die ihnen innerhalb der bestehenden Hierarchien zufällt. Wenn natürliche Ungleichheiten überhaupt bei der Beschaffenheit sozialer Ungleichheit ins Gewicht fallen, dann nur zu einem sehr kleinen Teil, und spürbar sind sie, wenn überhaupt je, nur im Rahmen von sozialen Praktiken und Institutionen, für deren Entstehen der Mensch, nicht die Natur verantwortlich ist und die daher im Prinzip auch anders aussehen könnten. Zweitens liefern die beiden natürlichen Leidenschaften des Menschen, Mitleid und amour de soi-même, den Menschen keinen Anreiz, Ungleichheiten schaffen zu wollen, außer unter bestimmten Bedingungen des Mangels, denn für die Endzwecke eines jeden ist es gleichgültig, wie gut oder wie schlecht es anderen beim Erreichen ihrer natürlichen Zwecke ergeht. Drittens gibt es keinen Grund zu glauben, dass die Bedingungen (solche des Mangels), unter denen Mitleid und amour de soi-même die Menschen veranlassen könnten, nach einem Vorteil gegenüber anderen als Mittel zur Erreichen ihres Endzwecks zu streben, als notwendig oder typisch in einer Welt gelten, in der Begierden nicht von unnatürlichen Leidenschaften verändert worden sind und in der künstliche soziale Einrichtungen Knappheit nicht zu einer systematischen Notwendigkeit gemacht haben.
Der Gedanke, der uns zu den Themen führt, die im nächsten Kapitel abzuhandeln sind, ist der folgende: Wenn soziale Ungleichheit eher als unser Werk denn als das der Natur zu begreifen ist, dann müssen wir irgendwie verständlich machen, was uns dazu motiviert, sie zu erzeugen, und wie wir gesehen haben, liefert uns weder das Mitleid noch der amour de soi-même dafür eine Erklärung. Im 2. Kapitel werden wir den positiven Teil von Rousseaus Ansicht über den Ursprung der Ungleichheit untersuchen, seine Darstellung dessen, wie systematische soziale Ungleichheiten möglich und nahezu unvermeidlich werden, sobald eine bestimmte »künstliche« Leidenschaft, der amour propre, seinem Bild der ursprünglichen Natur des Menschen zugefügt wird.
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