Kritik der Ungleichheit. Frederick Neuhouser

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Kritik der Ungleichheit - Frederick  Neuhouser Blaue Reihe

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dem, was uns notwendig und unabänderlich von der Natur mitgegeben wurde, und dem, was, da es letztlich von unserer freien Wahl abhängt, zufällig und variabel ist und in dem Sinn bei uns steht, dass wir es im Prinzip durch unser Handeln ändern könnten. In Anbetracht dessen ist es von großer Bedeutung, dass die Anlagen und Fähigkeiten, die Rousseau der ursprünglichen Natur des Menschen zuschreibt, nach Anzahl und Inhalt recht dürftig sind. Denn ein Ziel seiner Darstellung der Natur des Menschen besteht in der Erklärung der nahezu grenzenlosen Vielfalt von Lebensformen, die von historischen und anthropologischen Beobachtungen als Möglichkeiten menschlichen Daseins aufgewiesen worden sind. Doch obwohl Rousseau zu den radikalsten Verfechtern der großen Spannbreite menschlicher Kultur und der Wandelbarkeit unserer ursprünglichen Anlagen zählt, setzt er mit seiner Darstellung der ursprünglichen Natur des Menschen dessen Wandelbarkeit auch sehr breite natürliche Grenzen – Grenzen, die dazu dienen werden, bestimmte Antworten auf Übel, die im 2. Teil des Zweiten Diskurses zur Sprache kommen, als utopisch zu verwerfen und die wichtige normative Folgen für die Verhaltensweisen nach sich ziehen, die wir in Anbetracht der Einschränkungen ihrer ursprünglichen Natur von Menschen erwarten dürfen.

       Die Quelle der sozialen Ungleichheiten liegt nicht in der Natur des Menschen

      Kommen wir nun auf die Hauptthese zurück, die der ursprüngliche Naturzustand zusammen mit seinem Bild von der Natur des Menschen begründen soll, dass nämlich soziale Ungleichheiten ihre Quelle nicht in der Natur haben. Worauf ich oben bereits hingewiesen habe, besteht ein Teil dieser These in der Behauptung, die ursprüngliche Natur des Menschen allein liefere keine psychologischen Anreize, mit denen sich erklären ließe, warum Menschen ein Motiv haben, die Ungleichheiten anzustreben, die sie tatsächlich schaffen. Anders ausgedrückt: Keine der beiden Arten von Motiven, die sich aus den ursprünglichen Anlagen des Menschen ergeben, macht ihn geneigt oder gibt ihm Gründe, Ungleichheiten anzustreben – es sei denn sehr kurzfristige Vorteile, die unter bestimmten Umständen wünschenswert sind, weil sie einem anderen Zweck dienen. Im Falle von Mitleid liegt das auf der Hand: Obwohl es denkbar ist, dass ein kurzfristiger Vorteil unter ungewöhnlichen Umständen dem Zweck nützen könnte, das Leiden anderer zu lindern – beispielsweise wenn ein Angreifer, der einer schwachen dritten Partei Leid zufügen möchte, über große Körperkraft verfügt –, gibt es keinen Grund zu meinen, dass Empfänglichkeit für den Schmerz anderer den Naturmenschen systematisch dazu motivieren sollte, Ungleichheiten anzustreben, sei es mit Blick auf ihr eigenes Wohl oder als Mittel für den charakteristischen Zweck des Mitleids, Schmerzen anderer zu verringern.47 Wo es um den amour de soi-même geht, liegt der Fall komplizierter. Rousseau behauptet jedoch auch hier, dass es im rein natürlichen Eigeninteresse nichts gibt, was Menschen dazu bewegen könnte, um ihrer selbst willen Ungleichheiten zu wünschen: Bei den vom amour de soi-même erstrebten Gütern – etwa Nahrung, Unterkunft und Schlaf – handelt es sich ausnahmslos um Güter, die nicht-relativ sind bzw. nicht von der jeweiligen Stellung der Menschen zueinander abhängen, und daher bestehen sie weder in Vorteilen gegenüber anderen, noch werden sie dadurch bestimmt. Wie gut ich nachts schlafe, befriedigt mein eigenes Ruhebedürfnis und ist ganz und gar davon unabhängig, wie gut oder schlecht die Menschen um mich herum ihre Nacht verbracht haben. Der bloße Wunsch nach geruhsamem Schlaf gibt mir keinen Grund an die Hand, besser als andere schlafen zu wollen.

      Aber könnte der amour de soi-même nicht Wesen, die ihn besitzen, mit einem ständigen Anreiz ausstatten, Ungleichheiten als Mittel zu ihren Zwecken zu erstreben? Viele Philosophen neigen zur Bejahung dieser Frage – Hobbes ist dafür das berühmteste Beispiel und sicherlich der wichtigste Gesprächspartner, an den Rousseau hier denkt48 – und auch der gesunde Menschenverstand wäre schnell mit einem ›Ja‹ dabei, denn es fällt (uns) leicht, sich plausible Szenarien vorzustellen, in denen man das, was man wünscht oder benötigt, nur bekommt, wenn man andere übertrumpft. Dennoch ist es wichtig, sich über die Hintergrundannahmen, die in solche Szenarien einfließen, im Klaren zu sein. Eine Situation, auf die Philosophen oft hinweisen, wenn sie über Selbstliebe im Allgemeinen nachdenken, ist die, in der mehrere eigennützigen Individuen vor der Aufgabe stehen, eine Torte in Stücke zu schneiden und sie unter sich zu verteilen. Ihr Eigennutz wird jeden Einzelnen dazu bewegen, sich selbst das größte Stück zuzuschanzen.49 In Anbetracht dieser beiden Annahmen – der Wunsch, seinen Anteil schrankenlos zu vergrößern, und die festgelegte Menge des zu verteilenden Guts – erkennt man leicht, wie Menschen veranlasst werden können, nach Bedingungen der Ungleichheit zu streben. Was Rousseau bezweckt, wenn er ein so dürftiges Bild der ursprünglichen Natur des Menschen malt, lässt sich jedoch unter anderem so verstehen, dass er damit die Naturgegebenheit dieser vorausgesetzten Bedingungen anzweifelt. Bezogen auf die erste würde Rousseau entgegnen, dass nichts am rein natürlichen amour de soi-même den Wunsch zu erklären vermag, ein gewünschtes oder benötigtes Gut zu maximieren – im Gegensatz dazu, lediglich hinreichend davon zu erhalten, um ein bestimmtes Bedürfnis oder einen bestimmten Drang zu befriedigen. Anders gesagt: Obwohl er in den uns bekannten Gesellschaften sehr weit verbreitet ist, ist der Wunsch, etwas zu maximieren – insbesondere der Wunsch, unbegrenzt zu maximieren –, kein Wunsch, den die Natur uns einpflanzt, und das heißt, er ist nicht in den Zwecken der Selbsterhaltung und des rein animalischen Wohlergehens allein enthalten. Stattdessen beruht der Wunsch, so viel wie möglich für sich rauszuschlagen, ebenso auf Meinungen darüber, worin das eigene Wohlergehen besteht, wie auch auf erworbenen Gewohnheiten und Anlagen, die jedoch nach Rousseaus Ansicht nicht dem Reich der Natur angehören, sondern dem des Künstlichen, Veränderlichen und gesellschaftlich Geformten, also dem, was das Produkt menschlicher Freiheit ist. Die allein dem natürlichen amour de soi-même entspringenden Begierden und Bedürfnisse besitzen einen natürlichen und verhältnismäßig leicht zu erreichenden Sättigungspunkt, jenseits dessen sie aufhören, Forderungen an ihren Träger zu stellen, natürlich nur so lange, bis die normalen Naturkreisläufe sie wieder entzünden. Die (uns) vertrauten Phänomene der Begierden, die die natürlichen Bedürfnisse übersteigen oder nicht über einen Sättigungspunkt verfügen, entspringen in Rousseaus Augen eher den kontingenten sozialen und historischen Umständen als der Natur, und sich Klarheit darüber zu verschaffen, unter welchen Umständen sie auftreten, ist eine der Hauptaufgaben des 2. Teils.

      Nun könnte jemand meinen, um aus dem amour de soi-même einen Anreiz zur Herstellung von Ungleichheit abzuleiten, brauche man nur die Beispiele auszutauschen und sich auf das nicht weniger vertraute Szenario zu konzentrieren, in dem etwa vier Schiffbrüchige in einem Rettungsboot treiben, das nur für drei gemacht ist. Damit hätten wir ein einleuchtendes Szenario, das, indem es zeigt, wie der amour de soi-même den Wunsch erzeugen kann, gegenüber anderen im Vorteil zu sein, aus der Natur selbst eine Anlage zur Herstellung von Ungleichheit erzeugt. Insofern es vermeidet, einen künstlichen Impuls zur Maximierung der eigenen Güter zu postulieren und den Individuen lediglich ein dem natürlichen amour de soi-même innewohnendes Ziel, die Selbsterhaltung, setzt, kommt dieses zweite Beispiel der Erfüllung seines Zwecks näher als das erste. Man muss freilich festhalten, dass dieses Beispiel nur überzeugt, weil es Knappheit als Annahme in das vorgestellte Szenario hineinnimmt: Der Umgebung, in der sich die Individuen wiederfinden, fehlt es laut Hypothese an hinreichenden Ressourcen, um die biologischen Bedürfnisse aller zu befriedigen. Rousseau leugnet ja nicht, dass solch ein Szenario selbst in einer von allen künstlichen Umständen, die durch die Überzeugungen und den Willen der Menschen ins Spiel kommen, vollständig unberührten Welt möglich ist. Daher ist es nicht falsch zu sagen, dass unter bestimmten besonderen Umständen der Wunsch, gegenüber anderen im Vorteil zu sein – der Trieb, Ungleichheiten zu schaffen –, eine mögliche Folge des rein natürlichen amour de soi-même ist. Gleichwohl ist es bedeutsam, dass die Individuen sich Ungleichheit nur zweckgebunden wünschen – zur Sicherung ihres eigenen Überlebens – und dass dieser Zweck, wie alle anderen Zwecke des amour de soi-même, dem erfolgreichen oder erfolglosen Erreichen desselben Zwecks anderer letztlich gleichgültig gegenübersteht. Selbst wenn in diesem Szenarium das Erreichen des eigenen Zwecks danach verlangt, sich einen Vorteil über einen anderen zu verschaffen, über den, der in diesem Rettungsboot einer zu viel ist, so gehört dieser Vorteil nicht wesentlich dem Endzweck des amour de soi-même, dem Überleben, an. Begehrt wird er

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