Kritik der Ungleichheit. Frederick Neuhouser

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Kritik der Ungleichheit - Frederick  Neuhouser Blaue Reihe

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Motivation durch den amour de soi-même spontane Abweichungen vom »Instinkt« darstellten – darin, den Hunger zu befriedigen, und nicht darin, Fähigkeiten zu vervollkommnen. Sich Klarheit über das Zusammenspiel von Freiheit und Vervollkommnung zu verschaffen, ist deshalb wichtig, weil wir dadurch verstehen, wie die kontingente Entwicklung der Menschen und ihrer Gesellschaft, die im Zweiten Diskurs eine so große Rolle spielt, sowohl das Ergebnis als auch nicht das Ergebnis des menschlichen Willens sein konnte: Sie ist das Ergebnis freier menschlicher Tätigkeit – ein Zustand, in den wir, nicht Gott oder die Natur, die Welt versetzt haben –, doch ist sie kein beabsichtigtes Ergebnis unseres Willens. Mit anderen Worten, der im zweiten Teil geschilderte Zivilisationsprozess (und folglich die Verschlechterung der menschlichen Gattung) muss als unserer eigenes Tun aufgefasst werden – als etwas, für das wir in dem Sinn verantwortlich sind, dass es das Ergebnis unserer freiwilligen Wahlakte ist und daher auch anders hätte ausfallen können –, nicht aber als eine Entwicklung, an der wir moralisch schuld sind (da wir sie weder beabsichtigt haben noch ihre Folgen, auch nicht in ihren frühen Stadien, hätten vorhersehen können). Selbst wenn »die Mehrzahl unserer Leiden unser eigenes Werk sind« (DU, 99 / OC III, 138), sind sie doch nicht Ergebnisse unseres bösen Willens (oder der Erbsünde). Welche Bedeutung dieser Lehre für Rousseaus Unterfangen zukommt, liegt auf der Hand: Am Schluss der Erklärung für den Niedergang der menschlichen Gattung stehen Gott und die Natur – und auch wir – schuldlos oder »gerechtfertigt« dar (DU, 109 Anm. / OC III, 202), und die Verantwortung für die Verbesserung der von uns bewohnten Welt geht auf uns, die freien Schöpfer eben jener Eigenschaften über, die wir der Kritik der sozialen Ungleichheit zufolge verändern müssen.

      Rousseaus Naturzustand – und die damit einhergehende Darstellung der Natur des Menschen – weist ein hervorstechendes Merkmal auf, das bei seinen Lesern auf viel Kritik gestoßen und bislang von mir kaum berührt worden ist. Gemeint ist der durch und durch individualistische Charakter der ursprünglichen Natur des Menschen, wie er sich in dem wiederholt betonten Umstand spiegelt, dass der Naturzustand bar aller sozialer Beziehungen ist und es der ursprünglichen Natur des Menschen an allen Fähigkeiten und Anlagen fehlt, die von der menschlichen Gesellschaft abhängen oder sie betreffen. Diese atomistische Ansicht ist für Rousseaus Vorstellung des Naturzustands so grundlegend, dass sich seine Auffassung von der ursprünglichen Natur des Menschen auch als der Versuch kennzeichnen lässt, diejenigen basalen Anlagen und Fähigkeiten festzuhalten, die jedem Menschen qua Individuum von der Natur ungeachtet aller Beziehungen, die sie zu anderen Menschen möglicherweise haben, verliehen worden sind. Anders formuliert, wenn Rousseau der ursprünglichen Natur des Menschen amour de soi-même, Mitleid, Vervollkommnung und einen freien Willen zuspricht, dann behauptet er damit, dass es sich dabei um Merkmale des Menschen handelt, die im Prinzip dem Einzelnen für sich genommen zukommen, also selbst dann, wenn er außerhalb einer Gesellschaft lebt (unbeschadet der Tatsache, dass Menschen niemals in einem so isolierten Zustand existiert haben). Statt Rousseaus individualistische Auffassung in Bausch und Bogen zu verwerfen, lohnt sich der Versuch zu verstehen, warum Rousseau so vorgeht, wobei man stets bedenken muss, und das tue ich hier, dass er letztlich nicht dem Irrtum aufsitzt, den ihm sehr viele Leser vorhalten, dass er nämlich alles, was zu unserer sozialen Existenz gehört, für etwas hält, das unserer »wahren« Natur – im normativen Sinn – äußerlich ist.

      Eine Möglichkeit, Rousseaus individualistische Auffassung unseres Naturzustands zu verstehen, ist die, darin den Versuch zu sehen, das stoische Prinzip der Geselligkeit außer Acht zu lassen (DU, 73 / OC III, 126), das frühere Naturrechtstheoretiker, insbesondere Grotius und Barbeyrac, in ihr Bild von der Natur des Menschen aufgenommen haben. Diese Denker begreifen die Geselligkeit als eine angeborene Empfindung, die allen Menschen eigen ist und sie geneigt macht, sich um das Wohlergehen anderer zu kümmern, gleichgültig in welcher Beziehung es zu ihrem eigenen Wohl steht, und die sie aus mehr als nur zweckdienlichen Gründen die verschiedensten sozialen Beziehungen eingehen lässt. Rousseaus Hauptgrund für die Ablehnung der Geselligkeit scheint der zu sein, dass sie in den Bereich der Natur zu viel Soziales einschließt und uns so den Blick für die Künstlichkeit, vor allem aber für die Formbarkeit unserer sozialen Institutionen und unseren Wunsch verstellen würde, Bande zu anderen Menschen zu knüpfen. Die Wünsche, die uns dazu antreiben, Familien, Staaten und Wirtschaftsbeziehungen zu gründen, sind für ihn ein Produkt von Kultur und Geschichte. Keinem angeborenen menschlichen Trieb von der Art, wie die Geselligkeit es sein soll, ist eine »natürliche« Blaupause für diese Institutionen abzulesen. Während Rousseaus Haltung zur These von der Geselligkeit vielschichtig ist, würde die Aussage nicht zu weit gehen, dass das, was in seiner Vorstellung von der menschlichen Psychologie an ihre Stelle tritt, die Verbindung von Mitleid, einer »natürlichen« Empfindung, mit dem amour propre, einer »künstlichen« Leidenschaft, ist. Jenes hilft zu erklären, wie Individuen positiv veranlagt sein können, das Wohl – oder die Schmerzlosigkeit – anderer zu wünschen, wohingegen dieser – wie im nächsten Kapitel deutlich werden wird – erklärt, warum zivilisierte Menschen das anhaltende Bedürfnis verspüren, soziale Beziehungen zu knüpfen und zu pflegen.45

      Rousseaus individualistischem Ansatz lässt sich wohl am besten dadurch Sinn verleihen, dass man betrachtet, wie er aus seiner fundamentaleren Absicht folgt, den Menschen in einem vollkommen un-künstlichen Zustand zu charakterisieren. Dabei kommt es vor allem darauf an zu verstehen, warum er das Natürliche – aller Künstlichkeit Freie – der Geselligkeit so weit entrückt. Dieser Verbindung liegt nämlich der Gedanke zugrunde, dass soziale Beziehungen für die Entwicklung und die Ausübung eben der Fähigkeiten, von denen die Künstlichkeit abhängt, unverzichtbar sind und sich davon nicht trennen lassen. Bedenkt man, dass Künstlichkeit sich durch den Eingriff menschlicher, durch Meinungen vermittelter Handlungen auszeichnet, dann geht Künstlichkeit notwendig mit sozialen Beziehungen Hand in Hand, jedenfalls wenn Menschen ihre Fähigkeit zu urteilen nur in Gesellschaft entwickeln und ausüben können. Genau das trifft nach Rousseaus Ansicht zu, denn er glaubt, dass Sprache und Denken – die beiden Voraussetzungen, um Urteile zu fällen und überlegt zu handeln – etwas sind, worüber nur soziale Geschöpfe verfügen können. Zugleich meint er, dauerhafte soziale Beziehungen führten mehr oder weniger automatisch46 dazu, dass sich solche Fähigkeiten wie Sprache und Vernunft entwickeln, welche unvermeidlich Meinungen in die menschlichen Angelegenheiten hineintragen. Seine Auffassung ist mit anderen Worten die, dass es ohne Sprache und Denken keine echte soziale Existenz gibt und dass es umgekehrt für Geschöpfe, die ein so isoliertes Leben führen wie diese fiktiven Bewohner des ursprünglichen Naturzustands, keine Sprache und kein Denken gibt. Aus alldem folgt, dass, um den Menschen zu sehen, »wie ihn die Natur geschaffen hat«, bevor seine »ursprüngliche Beschaffenheit« sich »im Schoß der Gesellschaft« veränderte (DU, 63 f. / OC III, 122), wir ihn notwendigerweise unter Abstraktion von seinen sozialen Beziehungen betrachten müssen.

      Doch selbst wenn damit erklärt ist, warum Rousseau das Natürliche mit dem Unsozialen verbindet, ist unsere ursprüngliche Frage nur nach hinten verschoben worden: Wenn Menschen niemals in einer Situation leben, in der sie weder über Sprache noch Denken, noch soziale Beziehungen verfügen, und wenn eine solche Situation – wie wir im 3. Kapitel sehen werden – unvereinbar damit ist, was Rousseau für eine passende menschliche Existenzform hält, warum ist er dann so sehr darauf aus sich vorzustellen, wie die ursprüngliche Natur des Menschen beschaffen ist? Rousseaus umfassende Antwort auf diese Frage ist vielschichtig und sie darzulegen wird uns im Rest dieses Buches über weite Strecken beschäftigen. Doch schon jetzt ist es möglich, einen Teil dieser Antwort zu verstehen. Da die Idee der ursprünglichen Natur des Menschen ein analytischer Kunstgriff ist, der den Beitrag der Natur zu unserem realen Erscheinungsbild von unseren künstlichen Merkmalen – solchen, die den sozialen und historischen Umständen geschuldet sind, und folglich den durch unser Eingriffen in die Welt verursachten – trennen soll, lässt sich die oben gestellte Frage folgendermaßen umformulieren: Warum ist Rousseau so sehr darauf aus sich vorzustellen, was an unserer gegenwärtigen Situation auf die Natur zurückgeht und was unserer eigenen Freiheit entspringt (schließlich sind die Gesellschaft und Geschichte unsere eigenen, wenngleich in der Regel unbeabsichtigten Schöpfungen)? Enthalten ist die Antwort auf diese

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