Fritz Bauer und das Versagen der Justiz. Werner Renz
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Betrachtet man Bauer in seiner Gesamtheit, in seiner amtlichen Funktion, in seiner publizistischen Aktivitäten und in seinen privaten Verlautbarungen, ist man versucht, von ihm Ähnliches zu sagen. Seinem öffentlichen Optimismus kontrastierte sein privater Pessimismus. Im Gespräch mit Gerhard Zwerenz redete er von den »heiligen Irrtümern«21 der Emigranten, die nach wenigen Jahren Bundesrepublik recht verzweifelt feststellen mussten, wie ihre Hoffnungen zerstoben.
Bauer war ein überaus moderner Mensch, der die neuesten Ergebnisse der Wissenschaften rezipierte und die avancierte Kunst liebte. Er war aber auch zutiefst traditionell, präferierte Goethe im Fernsehen statt Krimis, hielt die Darstellung vorbildlichen Verhaltens für ein probates Erziehungsmittel, sprach sich für die Präsentation des nachahmenswerten Guten aus. Bauer verschrieb sich selbsttherapeutisch einem »Erziehungsidealismus«22, um nicht alle Lebenskraft zu verlieren. Seine Entscheidung, aus der Emigration zurückgekehrt zu sein, stellte er fortwährend in Frage. Die Bundesrepublik unter Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger, bessere Zeiten erlebte er leider nicht mehr, war ihm ein Graus. Er sah das Land auf dem Weg »nach rechts« und fürchtete eine »negative Utopie«.23
Gesundheitlich schwer angeschlagen war Bauer uneins mit sich selbst. Er beantragte eine Verlängerung seiner Dienstzeit bis ins Jahr 1971 und sprach zugleich davon, vorzeitig aus seinem Amt auszuscheiden und möglicherweise nach Israel umzusiedeln.24 Weder auf den Feldern der Strafrechts- und Strafvollzugsreform gab es nach Bauer die notwendigen Fortschritte. Auch auf dem Gebiet der justiziellen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hatten nach Bauer Politik und Justiz versagt. Zurecht ist mit Blick auf den Lüneburger Gröning-Prozess festgestellt worden, dass »die schweren Versäumnisse bei der Strafverfolgung der Nazi-Verbrechen […] ein ewiger Makel der Nachkriegsjustiz«25 bleiben.
Vergeblich hat Bauer in der Justiz sein Bestes versucht und die Anstrengung unternommen, den Deutschen die »Pflicht zum Ungehorsam«26 und zum »Nein gegenüber staatlichem Unrecht«27 zu lehren. Seine Saat ist zu seinen Lebzeiten nicht mehr aufgegangen.
1 Fritz Bauer an Melitta Wiedemann im Jahr 1964, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 19 (August 1968), H. 8, S. 492.
2 Werner Renz (Hrsg.), »Von Gott und der Welt verlassen«. Fritz Bauers Briefe an Thomas Harlan. Mit Einführungen und Anmerkungen von Werner Renz und Jean-Pierre Stephan, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2015, S. 134.
3 Das Krumey-Hunsche-Urteil wurde vom BGH aufgehoben. In der Neuverhandlung vor dem Landgericht Frankfurt am Main wurde Krumey mit Urteil vom 29.8.1969 zu lebenslangem, Hunsche zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Siehe das Urteil in: C. F. Rüter u.a. (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen, Amsterdam: Amsterdam/München: University Press/K.G. Saur Verlag, Bd. XXXIII, S. 5–64.
4 Siehe das Urteil vom 19./20.8.1965 in: Raphael Gross, Werner Renz (Hrsg.), Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965). Kommentierte Quellenedition. Mit Abhandlungen von Sybille Steinbacher und Devin O. Pendas, mit historischen Anmerkungen von Werner Renz und juristischen Erläuterungen von Johannes Schmidt. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 2013, Bd. 2, S. 575–1236. – Das freisprechende Urteil gegen drei »Euthanasie«-Ärzte kam Mitte 1967 noch erschwerend hinzu; siehe das Urteil in: C. F. Rüter u.a. (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XLVII, S. 232–283.
5 Wilhelm Dreßen, »Juristischer Umgang mit dem Holocaust. Die Entwicklung der Ermittlungsarbeit nach dem Krieg und die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Gewaltverbrechen«, in: … und hörten auf, Menschen zu sein: Der Weg nach Auschwitz, im Auftrag des Bundesarchivs hrsg. von Manfred Mayer, Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh Verlag, 2005, S. 103. – Wilhelm (Willi) Dreßen war von 1996 bis 2000 Leiter der Zentralen Stelle in Ludwigsburg.
6 Siehe die Angaben bei Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933–1945, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003, S. 154 f.
7 Fritz Bauer, Krigs-forbrytarna inför domstol. Stockholm: Verlag Natur och Kultur, 1944 (schwedische Ausg.); ders., Krigsforbrydere for domstolen. København: Westermann, 1944 (dänische Ausg.); ders., Die Kriegsverbrecher vor Gericht. Mit einem Nachwort von H. F. Pfenninger. Zürich: Europa Verlag, 1945.
8 Fritz Bauer, »Die Abrechnung mit den Kriegsverbrechern«, in: Sozialistische Tribüne, H. 2, Februar 1945, S. 12.
9 Ebd., S. 13.
10 Fritz Bauer, »›Recht oder Unrecht … mein Vaterland‹«, in: Deutsche Nachrichten, Nr. 24, 24.6.1946, S. 2.
11 Siehe Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München: C. H. Beck Verlag, 1996 und Andreas Eichmüller, Keine Generalamnestie. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München: Oldenbourg Verlag, 2012.
12 Fritz Bauer, »Die ›ungesühnte Nazijustiz‹«, in: Die Neue Gesellschaft, Jg. 7 (1960), H. 3, S. 189.
13 Fritz Bauer, »Warum Auschwitz-Prozeß?«, in: Konkret, Nr. 3, März 1964, S. 12.
14 Gustav Radbruch, »Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit», in: Süddeutsche Juristen-Zeitung, Sondernummer, März 1947, Sp. 131–136.
15 Fritz Bauer, »Das ›gesetzliche Unrecht‹ des Nationalsozialismus und die deutsche Strafrechtspflege«, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, 21.11.1878–23.11.1949, hrsg. von Arthur Kaufmann, mit einem Geleitwort von Gustav Heinemann, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, 1968, S. 302–307, hier: S. 307. Siehe hierzu auch Ilse Staff, »Überlegungen zum Staat als ›Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen‹«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 38 (1993), H. 12, S. 1520–1529, hier: S. 1528 f.
16 Fritz Bauer, »Im Namen des Volkes. Die strafrechtliche Bewältigung der Vergangenheit«, in: Helmut Hammerschmidt (Hrsg.), Zwanzig Jahre danach. Eine deutsche Bilanz 1945–1965. München: Kurt Desch Verlag, 1965, S. 310; ebenso in: Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak, Frankfurt, New York: Campus Verlag, 1998, S. 85.
17 Miloš Vec, »Der Gerichtssaal als Klassenzimmer der Nation«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.2.2000, Nr. 28, S. 14 (Rezension von Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak, Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, 1998).
18 Fritz Bauer, Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen