Fritz Bauer und das Versagen der Justiz. Werner Renz
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Fritz Bauer und das Versagen der Justiz - Werner Renz страница 5
Bauer entwickelte eine eigene Völkermord-Tätertypologie, die er in mehreren Texten darlegte. Insgesamt fünf Tätertypen machte er aus: Neben den »Fanatikern« und »Gläubigen«, die die Ideologeme der verbrecherischen Staatsführung teilten, unterschied er die »Formalisten« und »Blindgehorsamen«, für die Gesetz Gesetz sowie Befehl Befehl seien, ungeachtet der Frage, ob nicht durch die befohlene Tatausführung übergesetzliche Normen verletzt, menschenrechtswidrige Handlungen ausgeführt, gesetzliches Unrecht praktiziert werden. Weiter führte Bauer als dritte Gruppe die »Nutznießer« und »Opportunisten« an, denen Ideologie und Weltanschauung gleichgültig, das persönliche Fortkommen und die berufliche Karriere hingegen vorrangig seien. Personen, die einer dieser drei Gruppen zuzuordnen waren, erachtete Bauer als Täter bzw. Mittäter. Hinsichtlich der Gruppe der »missbrauchten Werkzeuge«, die unter Befehlszwang und in Befehlsnot handelten, und der fünften Gruppe, der »Mitläufer« und »Zuschauer«, legte Bauer weniger strenge Maßstäbe an. Die befehlsabhängigen Handlanger, die bloßen Instrumente der verbrecherischen Politik, qualifizierte er als Tatbeteiligte, bei denen Milderungsgründe ins Feld zu führen waren. Die Mitglieder der fünften Gruppe waren Bauer zufolge mehr als 15 Jahre nach der Tat strafrechtlich nicht mehr zu belangen.15
NS-Prozesse und ihre Lehren
Über Sinn und Zweck der NS-Prozesse äußerte sich Bauer häufig. In wiederholten Anläufen machte er angesichts der Abwehrhaltung vieler Deutscher den offensichtlich dringlichen Versuch, die Westdeutschen von der politisch-moralischen Bedeutung und dem sozialpädagogischen Nutzen der Verfahren zu überzeugen. Die Notwendigkeit, einer geschichtsvergessenen und vergangenheitsimmunen Öffentlichkeit die Wichtigkeit der unpopulären Prozesse erklären zu müssen, war Bauer schmerzlich bewusst. So meinte er zum Beispiel: »Wenn die Prozesse einen Sinn haben, so ist es die unumgängliche Erkenntnis, daß Anpassung an einen Unrechtsstaat Unrecht ist. Wenn der Staat kriminell ist, weil er die Menschen- und Freiheitsrechte, die Gewissensfreiheit, das Recht auf eigenen Glauben, auf eigene Nation und Rasse, das Recht auf eigenes Leben systematisch verletzt, ist Mitmachen kriminell.«16 Und mit Blick auf sein Anliegen, Recht und Pflicht zum Widerstand zu legitimieren: »Unsere Strafprozesse gegen NS-Täter beruhen ausnahmslos auf der Annahme einer […] Pflicht zum Ungehorsam. Dies ist der Beitrag dieser Prozesse zur Bewältigung des Unrechtsstaates in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese pädagogische Aufgabe wird gern übersehen.«17
Als der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess bereits vier Monate andauerte, schrieb Bauer: »Die Prozesse sind als das Bekenntnis einer neuen Generation […] zu Wert und Würde eines jeden Menschen gedacht.«18 Dabei wusste er freilich allzu gut, dass die »bittere Medizin«19, die »bittere Arznei«20, die die Schwurgerichtsverfahren gegen NS-Verbrecher bedeuteten, von den Wohlstandsbundesbürgern nur widerstrebend eingenommen werden würde. »›Bewältigung unserer Vergangenheit‹ heißt Gerichtstag halten über uns selbst, Gerichtstag über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte, nicht zuletzt alles, was hier inhuman war, woraus sich zugleich ein Bekenntnis zu wahrhaft menschlichen Werten in Vergangenheit und Gegenwart ergibt, wo immer sie gelehrt und verwirklicht wurden und werden. Ich sehe darin nicht […] eine Beschmutzung des eigenen Nestes; ich möchte annehmen, das Nest werde dadurch gesäubert.«21
Bauers in volkspädagogischer Absicht gehegten Erwartungen an die NSG-Verfahren waren groß. Die bewusstseinsbildende Funktion der Prozesse über alle strafrechtliche Zwecke hinaus betonte er fortwährend. So führte er Anfang 1964 in einem Vortrag auf Einladung der Deutsch-Israelischen Studiengruppe an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main aus: Die Prozesse müssten »die Frage nach dem Warum aufwerfen, denn ohne Antwort auf das Warum, nach den Wurzeln des Bösen, nach den Wurzeln des Kranken gibt es kein Heil und keine Heilung«.22 Bauer forderte deshalb von den Deutschen einen »harten Willen zur Wahrheit«23, eine schonungslose Selbsterforschung, eine Ätiologie des den Deutschen inhärenten Bösen.
Bauers instrumentalistische Sicht der NS-Prozesse wird erkennbar, wenn man seine Ausführungen zu einem humanen (kommenden) Strafrecht, zu einem Recht der Menschenbehandlung, im Vergleich zu seinen Ausführungen hinsichtlich der NSG-Verfahren betrachtet. In NS-Prozessen kam es ihm vorrangig darauf an, die Tat festzustellen, das Verbrechen aufzuklären, die menschenrechtsverletzende Handlung darzulegen, um aus der Erkenntnis des Fehlverhaltens der Akteure, auch aus dem Eingeständnis des begangenen Unrechts, Lehren ziehen zu können. Der Täter in NS-Prozessen war nach Bauer von nachgeordneter Bedeutung. In seinem Buch Die Kriegsverbrecher vor Gericht führte er bereits unmissverständlich aus: Die Angeklagten in den bevorstehenden Kriegsverbrecher-Tribunalen spielten »nur die Rolle eines Mittels zum Zweck«, der vor Gericht stehende Kriegsverbrecher diene »einem höheren Ziel«.24 Bauer ging es weniger um die Täter und deren nachfolgende Behandlung als »um das Verbrechen als solches und die Aufrechterhaltung der Normen, die die Gemeinschaft zum Schutz ihrer Existenz und Entwicklung aufgestellt hat. Die Wirklichkeit dieser Normen, das geltende Recht, muss unterstrichen werden.«25 Durchaus modern sprach sich Bauer für den Strafzweck der positiven Generalprävention aus.26
Obschon der Fokus auf Tatfeststellung und -aufklärung lag, begriff sich Bauer auch im Falle der NS-Verbrecher als moderner Kriminalpolitiker. Neben seinem vorrangigen Anliegen, den Deutschen durch NS-Prozesse »die historische Wahrheit kund«27 zu tun, erhoffte er sich bei den verurteilten NS-Verbrechern in sozialtherapeutischer Absicht eine Wandlung zum Besseren. Explizit hat sich Bauer zum Zweck der Strafe in NS-Prozessen nicht geäußert. Strafe als Sühne für Tatschuld lehnte er als schlechte Metaphysik ab. Das Schuldprinzip, das Willensfreiheit voraussetze, verwarf er vehement. Das Vergeltungsprinzip war ihm ein inhumanes Relikt autoritären, vordemokratischen Denkens.28 Wichtig in NS-Prozessen erschien Bauer nicht das Strafmaß, sondern die richterliche Qualifizierung der Angeklagten als verantwortliche Täter eines Unrechtsstaats, die für ihre Beteiligung an den Verbrechen aus erzieherischen Gründen einzustehen hatten. Die Pflicht zum Nein, zur Verweigerung der Mordbefehle, hatten sie nicht gefühlt.29 Ihr Gewissen, Bauer zufolge eine gleichsam naturgegebene Stimme30 in jedem Menschen, hatte sich nicht gerührt. Bauer war sich freilich bewusst, dass bei Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung (täterschaftliche, konsensuale Mitwirkung an einer Tat im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit) alle Angeklagten in den NS-Mordprozessen zu lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen waren. Da sich in seinen Schriften Gegenteiliges nicht finden lässt, muss er wohl der Auffassung gewesen sein, es handele sich bei dieser prozessual notwendigen Rechtsfolge um ein gerechtes Urteil, ein vom NS-Verbrecher notwendig zu erleidendes Übel.
Als Verfechter eines humanen Rechts der sozialtherapeutischen Behandlung der Delinquenten war der Kriminalpolitiker Bauer naheliegenderweise der Ansicht, auch NS-Täter – meist erst 15 Jahre nach der Tat vom unauffälligen, sozial angepassten Bundesbürger zum Angeklagten in Mordprozessen geworden – müssten im Zuchthaus, in dem sie nach geltendem, antiquiertem Recht ihren Freiheitsentzug abzusitzen hatten, Gegenstand resozialisierender Maßnahmen sein. Nur diesen Zweck erachtete Bauer als eine Rechtfertigung der notwendig zu verhängenden Strafe, dieses fundamentale Prinzip humanen Strafens galt es auch bei Angeklagten in NSG-Verfahren zu beachten. Eine Verwahrung der NS-Täter zum Schutz der Gesellschaft machte er angesichts der mangelnden Gefährlichkeit der gealterten NS-Täter für die bundesdeutsche Demokratie nicht geltend.
Als Antwort auf seine Kritiker, die ihm widersprüchliche Auffassungen vorhielten, meinte Bauer: »Als Beispiel nicht resozialisierungsbedürftiger Täter werden häufig die nazistischen Gewaltverbrecher genannt. Die Argumentation ist jedoch schwer verständlich. Es gibt so gut wie keinen unter diesen Mördern, der sich zu dem Unrecht bekannt hätte, das er mit anderen zusammen beging. In den Prozessen, in denen es an belastenden Dokumenten und Zeugen nicht gefehlt hat und ein Geständnis ihre prozessuale Situation nicht erschwert, sondern eher erleichtert hätte, fehlte es häufig an jedem Respekt vor den überlebenden Opfern der Grausamkeiten. Viele der Täter sind weit davon entfernt, die Grundwerte unseres Staates, vor allem die Menschenwürde aller, die Gleichheit eines jeden ohne Rücksicht auf Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöse oder politische Anschauungen in Wort und Tat zu bejahen. Ohne dies ist aber eine Anpassung an unsere Gesellschaft noch nicht erfolgt.«31
Auf