Praxis Dr. Norden Box 4 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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»Schau mal ins E-Mail-Postfach!« Wendy saß am Schreibtisch. Ihr Blick ruhte auf dem Bildschirm des Computers. »Das Labor von Malte Stein ist da.«
»Da haben sich die Kollegen aber beeilt.« Danny Norden hatte die letzte Patientin des Tages zur Tür gebracht und gesellte sich zu seinen Assistentinnen an den Tresen. »Wie sehen seine Werte aus?«
»Augenblick.« Janine tippte ein paar Befehle ein. Das Licht des Monitors fiel auf ihr Gesicht.
Danny betrachtete sie besorgt.
»Das scheint ja nicht gut auszusehen.« Er trat hinter sie und warf einen Blick über ihre Schulter. »Die Eiweißwerte sind sehr niedrig.«
»Sehen Sie sich die Leberwerte an!« Janine deutete auf die entsprechende Zeile.
»Der Junge hat akute Mangelerscheinungen.«
»Kein Wunder, dünn wie er ist«, murmelte Janine vor sich hin. Wieder musste sie an sein knochiges Knie denken.
»Wie alt ist er?«, erkundigte sich Wendy.
»Fast siebzehn.«
»Wirklich? Ich hätte ihn keinen Tag älter als fünfzehn geschätzt.«
Ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, wiegte Janine den Kopf.
»Sieht alles nach einer Entwicklungsstörung aus. Vielleicht eine Essstörung.«
»Das habe ich ihn schon gefragt.« Danny Norden richtete sich auf und streckte den Rücken durch. »Er hat steif und fest behauptet, er würde genug essen.«
»Mal abgesehen davon hätte Arndt das doch gemerkt«, erwiderte Janine. »Er betont immer wieder, wie gut er sich mit seinem Sohn versteht und welch enges Verhältnis sie haben, seit Maltes Mutter die Familie verlassen hat.«
Wendy lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch.
»Gerade deshalb könnte es sein, dass sein Vater etwas übersehen hat«, gab sie zu bedenken.
»Aber Essstörungen sind doch eher ein weibliches Problem«, bemerkte Janine.
»Irrtum.« Wendy streckte die Hand nach dem Stapel Papier aus, der sich auf der linken Seite ihres Schreibtischs auftürmte. Eine Weile raschelte sie darin herum, ehe sie triumphierend eine Broschüre durch die Luft schwenkte. »In diesem Heft steht, dass gerade junge Männer in ihrem Selbstbewusstsein verunsichert sind und aus diesem Grund klassische Frauenmuster aufgreifen.« Sie klappte die Broschüre auf und überflog den Text. »Hier haben wir es ja! Hört zu!« Sie hielt den rechten Zeigefinger hoch. »Der Mann ist zunehmend körperorientiert und klinkt sich aus der traditionellen Geschlechterrolle aus. Er wird empfänglicher für Werbung. Seit dem Aufkommen moderner Lifestyle-Magazine für Männer, in denen unerreichbare körperliche Ideale abgebildet werden, ist ein erhöhter Anstieg an Essstörungen bei männlichen Jugendlichen zu verzeichnen.«
Danny Norden hatte aufmerksam zugehört. Er schüttelte den Kopf.
»Ich habe nicht den Eindruck, als litte Malte unter psychischen Störungen.«
»Und was haben Sie jetzt vor?« Janine sah ihren Chef fragend an.
Danny streckte die Hand nach Wendys Broschüre aus.
»Der Verdacht einer Störung ist nicht von der Hand zu weisen. Deshalb werde ich mit seinem Vater sprechen. Haben Sie die Telefonnummer?«
»Arndt Stein ist gerade bei seinem Sohn«, teilte Wendy ihrem Chef mit.
»Oh, gut. Dann begeben ich mich mal in die Höhle des Löwen.« Auf halbem Weg drehte sich Danny noch einmal um. »Aber freuen Sie sich nicht zu früh!« Er zwinkerte Wendy zu. »Dem Salsa-Kursus heute Abend entgehen Sie nicht. Dafür sorge ich höchstpersönlich.«
*
Seit einer Weile hatte es sich Fynn angewöhnt, vor jedem neuen Krippentag seinen Kinderkoffer mit all den Dingen zu packen, die ihm wichtig waren. Deshalb dauerte es auch bei jedem Abholen, bis Teddy, Schmusetuch und das aktuelle Lieblingsbuch wieder verstaut waren und der kleine Mann bereit für den Heimweg war.
»Und? Hattest du deinen schönen Tag?«, fragte Tatjana, während sie Hand in Hand mit ihrem Sohn den Gehweg entlang schlenderte.
»Ich bin Bagga gefaht. Aba Micha mein Bagga wegnommt«, plapperte der Kleine. Die rechte Hand gestikulierte wild durch die Luft, während er mit der linken seinen Koffer hinter sich herzog.
»O je, da warst du bestimmt ganz traurig.«
Die blonden Locken flogen nach links und rechts.
»Ich hab Micha haut«, erklärte der Kleine mit dem ganzen Ernst seiner drei Jahre.
Mitten auf dem Gehweg ging Tatjana vor ihrem Sohn auf die Knie. Sie nahm ihn an den Schultern und sah ihm in die Augen.
»Du kannst doch Micha nicht einfach hauen.«
Fynn zog eine Schnute.
»Micha mein Bagga wegnommt.«
»Erstens ist das nicht dein Bagger. Und zweitens darfst du ihn nicht schlagen. Das tut ihm doch weh. Du magst es auch nicht, wenn ich dir einen Klaps gäbe.«
Fynn nickte energisch.
»Mama Dlaps aua!«
»Ganz genau.« Nur mit Mühe konnte sich Tatjana ein Lächeln verkneifen. Sie strich Fynn eine blonde Locke aus der Stirn. »Das nächste Mal, wenn Micha dir den Bagger wegnimmt, gehst du zu Sabine oder Henry. Die helfen dir dann.« Sie stand wieder auf und streckte die schmerzenden Knie. Genug getadelt! Sie sah sich um. Bemerkte, dass sie an der Kreuzung standen. Rechts lag das Wolkenkuckucksheim. Links mussten sie abbiegen, wenn sie in die Wohnung gehen wollten. »Was meinst du? Sollen wir kurz in unserem neuen Haus vorbeischauen? Dein Zimmer ist fast fertig. Papa und ich haben schon die Schränke aufgestellt und dein Kinderbett aufgebaut. Magst du es sehen?«
»Ja, ja, ja.« Das kleine Gesicht strahlte vor Begeisterung.
Tatjana nahm wieder die kleine Hand, die immer ein wenig klebrig war. Munter plaudernd setzten sie ihren Weg fort. Tatjana erzählte ihrem Sohn von der Nestschaukel, die Danny im nächsten Frühjahr in den alten Ahornbaum hängen wollte. Der Koffer rumpelte hinter ihnen über den Asphalt. Die Villa kam in Sicht. Schon von Weitem erkannte Tatjana den Lieferwagen, der prominent vor dem Anwesen der Nachbarn parkte. Selbst mit eingeschränktem Sehvermögen war er nicht zu übersehen. Die Nachbarin Evelyn stand mit einem Handwerker im Blaumann daneben. Bei Tatjanas Anblick hob sie die Hand und winkte.
»Hallo, Liebes!«
Tatjanas Nackenhaare kräuselten sich.
»Hallo, Evelyn.«
Mit ganzem Gewicht hing Fynn an der Hand seiner Mutter und drängte Richtung Lieferwagen. Natürlich war der Kleine ein ganz besonderes Kind. Doch in einem glich er allen anderen Kindern auf dieser Welt: Große Autos, Lastwagen, Bagger und Müllautos übten eine magische Anziehungskraft