Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46. Rainer Huhle
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Die rechtliche Problematik, die in dieser Konstruktion von formeller Zugehörigkeit einerseits und konkreter Verantwortlichkeit andrerseits steckt („kriminelle Vereinigung“), löst Jackson mit dem Hinweis, dass in allen Staaten, die den Gerichtshof tragen, Verurteilungen wegen Zugehörigkeit zu illegalen Vereinigungen möglich sind.120 Das war vor allem mit Blick auf die Sowjetunion nicht unbedingt eine vertrauensbildende Aussage. Er ist andererseits Pragmatiker genug, um darauf hinzuweisen, dass die Umstände, unter denen jemand Mitglied in einer verbrecherischen Organisation wird und sich an deren Taten beteiligt, natürlich zu berücksichtigen seien. Weitaus genauer als in seiner Eröffnungsrede geht er auf diese Fragen in seiner zweiten Rede am 28. Februar 1946,121 die hier nicht abgedruckt ist.
Aus der US-amerikanischen Perspektive von 1945 gehört die Frage nach der kriminellen Schuld der vielen Einzelpersonen in den NS-Organisationen zum Gesamtprojekt der Überwindung der NS-Herrschaft und des politischen, geistig-moralischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus. Die Feststellung des verbrecherischen Charakters der angeklagten Organisationen war dazu aus Jacksons Sicht ein wesentlicher Beitrag des Hauptkriegsverbrecherprozesses. Damit war nicht automatisch jeder einzelne Angehörige strafrechtlich verurteilt. Er war aber „einer Bestrafung ausgesetzt, die später durch besondere Gerichte bestimmt wird und vor denen er Entlastungsgründe vorbringen kann.“122 Diese besonderen Gerichte waren dann die Spruchkammern der Entnazifizierungsverfahren. So sehr im Rückblick diese Verfahren sowohl unter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit wie der Wirksamkeit kritisierbar sind, das von Jackson vorgetragene Konzept einer Verschränkung von begrenzter kollektiver und von individueller Verantwortlichkeit zeigt in seiner Differenziertheit großes Bemühen um eine Form, die dem Anspruch auf Gerechtigkeit nahekommt. Dieses Konzept vermeidet eine Pauschalverurteilung des deutschen Volkes als Kollektiv, will aber auch dem Anspruch gerecht werden, dass die strafrechtliche Schuld der vielen Aktivisten und Unterstützer des Nationalsozialismus individuell untersucht werden muss123“.
Auch wenn Jackson die Anklage wegen Verschwörung wie kein anderer mit Emphase in Nürnberg vorgetragen hat, mag ihn dabei schon der Zweifel beschlichen haben, den er wenige Jahre später, wieder zurück am Obersten Gerichtshof, so formulierte: „Der moderne Straftatbestand der Verschwörung ist so vage, dass er sich fast jedweder Definition entzieht.“124
Wir – die Zivilisation
„Verschwörung“ war der juristische Schlüsselbegriff in Jacksons Rede. Aber was an seiner Eröffnungssprache die Welt so beeindruckte, waren nicht seine juristischen Argumente, sondern die Art, wie er sie moralisch untermauerte. Am Anfang und am Ende seiner Rede macht er sich zum Sprecher nicht einfach der anklagenden „Vereinten Nationen“, sondern „der Zivilisation“: „Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, daß die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben.“
So beginnt die Rede. Und am Ende heißt es:
„Die Zivilisation fragt, ob das Recht so zaudernd und träge sei, daß es gegenüber so schweren Verbrechen, begangen von Verbrechern von so hohem Rang, völlig hilflos ist. Die Zivilisation erwartet nicht, daß Sie den Krieg unmöglich machen können. Wohl aber erwartet sie, daß Ihr Spruch die Kraft des Völkerrechts mit seinen Vorschriften und seinen Verboten und vor allem mit seiner Sühne dem Frieden zum Beistand geben werde, so daß Männer und Frauen guten Willens in allen Ländern leben können ‚keinem Untertan und unter dem Schutz des Rechts‘.“
Insgesamt zehn Mal ruft Jackson die Zivilisation auf. Bisweilen tritt sie personifiziert als Handelnde oder Fragende auf, andere Male eher als abstraktes Prinzip. Immer aber ist die Zivilisation auf seiner, auf der Ankläger Seite. Die Angeklagten hingegen haben ihr schweren Schaden zugefügt, sie „um ein Jahrhundert zurückgeworfen.“125 Rhetorisch war und ist diese die Rede durchziehende und sie umrahmende Anrufung der Zivilisation höchst wirkungsvoll. Gerade deshalb ist es notwendig, sich etwas genauer anzusehen, was Jackson mit diesem Begriff bezweckte, den zwar auch andere Ankläger verwendeten, insbesondere de Menthon, aber keiner in ähnlich exponierter Form gebrauchte.
Zivilisation ist für Jackson zunächst der Zustand einer Gesellschaft, in der Mindeststandards an Humanität gelten, wobei ihm offenbar ein gewisses Maß an Rohheit durchaus mit ihr vereinbar ist, ein Maß, das die Nazis aber eindeutig überschritten hätten.126 Die Zivilisation in diesem Sinn ist Produkt des Fortschritts, ein höheres Stadium gesellschaftlicher Organisation, das aber fragil ist, sodass es auch zurückgeworfen werden kann, wie es die Nazis vorführten. Die Verbrechen der Nazis sind also für Jackson auch und vor allem ein Zivilisationsbruch in diesem Sinn, der zivilisatorischen Fortschritt mit einem Fortschritt hin zu mehr Humanität gleichsetzt. Mit diesem Denken bewegt sich Jackson ganz in der Geschichtsphilosophie des 19. und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Aber nicht nur der Geschichtsphilosophie, sondern auch des modernen Völkerrechts seit dem 19. Jahrhundert, das darauf beruht. Das Völkerrecht der Moderne wurde, anders als das der Renaissance und des Mittelalters, verstanden als „Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten“,127 und Jackson war sich dessen bewusst. Als er im Juni 1945 Präsident Truman einen Zwischenbericht über die Vorarbeiten zum Tribunal gab, berief er sich bei der Aufzählung der geplanten Anklagepunkte auf „die Strafrechtsprinzipien, die generell in zivilisierten Staaten gelten“ und zitierte die berühmte „Martens-Klausel“, die 1899 auf der Haager Friedenskonferenz formuliert worden war und bestimmte, dass – in Jacksons eigenen Worten – „die Prinzipien des Völkerrechts, die sich aus den zwischen zivilisierten Völkern etablierten Gebräuchen, den Gesetzen der Menschlichkeit und den Forderungen des Gewissens“ herleiten, auch im Krieg für alle Menschen gelten.128
Der Begriff der Zivilisation hatte also auch rechtliche Bedeutung. Darauf bezog sich seine Bemerkung, dass „Brauch der Zivilisation und Abkommen, denen Deutschland beigetreten war, […] einen bestimmten Schutz für die Zivilbevölkerung [vorsahen]“. Und deshalb kann er seine Rede mit der Behauptung enden: „Die wahre Klägerin vor den Schranken dieses Gerichts ist die Zivilisation. Sie ist noch unvollkommen und ringt in allen unseren Ländern.“129 Es ist ein doppelter Zivilisationsbruch, den er den Nazis vorwirft: Sie brachen den Konsens des Völkerrechts der zivilisierten Staaten. Und sie stellten sich damit außerhalb der Gemeinschaft der zivilisierten Völker, sprangen zurück in die Stufe der Barbarei, wie de Menthon es später aufgriff.130
Angesichts der Nazi-Verbrechen klang das überzeugend. Ganz besonders, als Jackson seinen vielleicht berühmtesten Satz in den Raum stellte:
„Wir dürfen niemals vergessen, daß nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden.“
Dass dieses Versprechen an die Zukunft nicht eingehalten wurde, ist vor allem seit der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs ohne die USA oft genug gesagt worden. Doch es war auch 1945 nicht nur eine Frage des „morgen“. Schon damals war die umstandslose Ineinssetzung des „Wir“ der Ankläger mit der Zivilisation ein ideologisches Konstrukt. Nur wenige Zeitgenossen bemerkten kritisch, dass die Atombomben, die von der US-Luftwaffe genau in den Tagen auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, als in London das Statut für das IMT beschlossen wurde, dort nicht zur Sprache kamen.131 Auch im IMT wurden sie kaum, allenfalls in marginalen Bemerkungen erwähnt, ganz im Gegensatz zu den Bombardierungen auf die deutschen Städte.
Japan war nicht nur weit weg, es hatte auch, trotz seiner Teilnahme an den Haager Friedenskonferenzen, noch keinen gesicherten Platz im Kreis der „zivilisierten Staaten“.132 Gegenüber Japan erlaubten sich die USA eine extrem rassistisch unterlegte Kriegspropaganda und die völkerrechtswidrige Internierung japanisch-stämmiger US-Bürger.133 Jackson selbst hatte 1944 als Mitglied des Obersten Gerichtshofs über die Klage eines der von der Internierung Betroffenen, die vom Gerichtshof abgewiesen wurde, ein Minderheitenvotum abgegeben, in dem er einerseits die Unrechtmäßigkeit der Internierungen feststellt,