Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46. Rainer Huhle
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Jacksons Rhetorik: „Die Nationen klagen an!“
Wen will Jackson mit seiner Rede überzeugen, wen spricht er an? Die Rede richtet sich zuerst an das Gericht, muss also eine überzeugende Prozessstrategie darlegen; dann natürlich an die Weltöffentlichkeit, die ein historisch-politisches Urteil über das NS-System erwartet, das noch vor kurzem Europa mit Gewalt beherrscht hatte; an die Kritiker zu Hause, die den Aufwand und den Nutzen des Unternehmens für die USA oder für eine zukünftige Welt hinterfragen; an die deutsche Öffentlichkeit, im Kontext der Bemühungen um eine “re-education”; und nicht zuletzt an eine skeptische völkerrechtliche Fachwelt.
Die Anklage trägt die Handschrift des Bundesrichters aus Washington. Hier im Saal 600 ist er aber zuerst der Sprecher des Kollektivs der Ankläger: Er spricht im „Wir-Ton“ – für die vier großen Nationen und die 17 weiteren Staaten, die sich dem Verfahren angeschlossen hatten. Damit erreicht er eine gewisse erhabene und geschichtlich-bedeutsame Tonlage. Blickt man auf die Liste der Länder und denkt an das Leid auch der „kleinen“ Völker Europas, dessen Ende erst kurze Zeit zurücklag, wird man den Ton nicht als zu pathetisch empfinden. Es sind eben nicht nur die Sieger des Krieges, die als Eroberer kamen, um „Gericht zu halten“. Die Anklage sprach auch im Namen der Staaten, die überfallen worden waren und sich seit 1942 gegen die Achsenmächte als „Vereinte Nationen“ zusammengefunden hatten. Sie alle waren Opfer der Verbrechen, die Wehrmacht, Einsatzgruppen, SS und Gestapo, begangen hatten.
In der Beschreibung dieses Systems will der Redner zunächst noch nicht ins Detail gehen. Seine an den Anfang gestellte, nicht in juristischen, sondern moralischen Begriffen vorgetragene Empörung über die „ausgeklügelte Bosheit“, über „das Böse“, über das, „was die Welt noch nicht gesehen hat“,57 soll deutlich machen, dass es hier, im Gegensatz zu aller juristischen Nüchternheit, um mehr geht als nur um einen Strafprozess mit der Verurteilung einzelner Täter. Jackson ist sich der Notwendigkeit, in diesem Verfahren ohne historisches Vorbild strenge Strafprozesslogik und innovative Weiterentwicklung des Völkerrechts ins Gleichgewicht zu bringen, ständig bewusst. Er verlässt den engen juristischen Bereich und stellt den Prozess in eine weltpolitische Perspektive, der er dienen will: Mit rechtlichen Mitteln, die den Nationen zur Verfügung stehen, müssen die Verantwortlichen für diese Verschwörung zum Angriffskrieg verurteilt werden, um ihn zukünftig zu verhindern. Dazu rückversichert sich Jackson mit dem regelmäßigen Bezug auf das Londoner Statut und auf die Stationen, die zu ihm geführt haben, beginnend mit den „Anweisungen“ (…) „seines“ Präsidenten Roosevelt.58 Aber auch wenn sie sich auf das „Wir“ der gemeinsamen London-Charta beruft, ist die Rede doch nicht nur als Konsens-Dokument zu lesen, sondern trägt Jacksons sehr persönliche Handschrift.
Woher kann das Gericht seine Legitimität und sein Verfahrensrecht nehmen?
Jackson kennt die Einwände und die Skepsis, die gegen die rechtlichen Grundlagen des IMT vorgebracht werden. Da ist es geschickt, erst einmal die Defizite und Schwächen einzugestehen: Die Kürze der verfügbaren Zeit, das Neue am Verfahren, die komplexen rechtlichen Koordinationserfordernisse.59 Und umgekehrt darauf zu verweisen, dass die Angeklagten, die jetzt auf der Einhaltung strenger rechtsstaatlicher Prinzipien bestanden, diese in nie gekannter Weise verhöhnt hätten. Diese Männer hätten sich nicht im Geringsten um das Gesetz gekümmert. Das Rückwirkungsverbot hätten sie bei ihren eigenen Rechtsbrüchen ganz und gar nicht beherzigt. Recht hätten sie gebrochen, wenn es ihnen im Weg war. Überhaupt sei ihr Verhältnis zum Recht rein opportunistisch gewesen, ohne Anerkennung bindender Normen. Sie könnten froh sein, jetzt vor einem ordentlichen Gericht zu stehen, im Gegensatz zu der Justiz, die unter dem Nationalsozialismus geherrscht habe.
Grundsätzliche Einwände: Rückwirkungsverbot und Siegerjustiz
Aber auch einige grundsätzliche Einwände gegen den Prozess nimmt Jackson schon in dieser Eröffnungsrede auf.
Zu diesen zählt, dass die Anklagepunkte gegen das Rechtsprinzip des „nulla poena sine lege praevia“, also gegen das „Rückwirkungsverbot“ verstießen. Er fragt, ob die Täter denn nicht gewusst hätten, dass sie nicht morden dürfen? Haben sie nicht die Unterlagen ihrer Verbrechen vernichtet, um sie zu vertuschen? Warum haben sie Geheimbefehle erlassen?60 Im Übrigen kennt das angelsächsische Recht, das sich weniger auf der Basis von geschriebenen Gesetzen als von Gerichtsentscheidungen (“case law”) entwickelt, kein so formales Verbot, ohne zum Zeitpunkt der Tat geschriebenes Gesetz zu urteilen.61 Beim Völkerrecht – und hier schließt er offensichtlich das Völkerstrafrecht mit ein – gebe es dieses Rückwirkungsverbot ohnehin nicht, denn Völkerrecht sei, so führt Jackson in einer längeren Passage aus, „mehr als eine gelehrte Sammlung abstrakter und unveränderlicher Grundsätze.“ Es bilde sich aus Vertrags- und Gewohnheitsrecht, und beides entwickle sich aus der Notwendigkeit, auf konkrete Situationen mit den Mitteln des Rechts zu reagieren. Das sei in der Geschichte des Völkerrechts so gewesen und heute nicht anders. Das Völkerrecht, so schließt Jackson sein Argument, „wächst, wie das gemeine Recht (“Common Law”)62 in Entscheidungen, die von Zeit zu Zeit getroffen werden, um festgelegte Grundsätze neuen Lagen anzupassen. Das Völkerrecht muß sich, soll es sich überhaupt entwickeln, wie das gemeine Recht (“Common Law”) von Fall zu Fall entwickeln, und zwar schreitet es immer auf Kosten derer fort, die es verkannt und ihren Irrtum dann zu spät bemerkt haben.“63
Ein zweiter grundsätzlicher Einwand richtet sich gegen die Legitimität des Gerichts selbst. Wie kann ein von den Siegermächten aus eigener Macht eingesetztes Sondergericht beanspruchen, dem Rechtsanspruch auf ein ordentliches Verfahren zu genügen? Dieser unter dem Stichwort „Siegerjustiz“ geläufigen Kritik, die bereits am ersten Tag des Prozesses von der Verteidigung vorgebracht und vom Gericht zurückgewiesen wurde, begegnet Jackson mit der Frage, welche Alternativen es denn gebe? Welche Neutralen seien denn übrig geblieben, um ein solches Verfahren durchzuführen? Und der Versuch, die Deutschen selbst zu Richtern über ihre Kriegshandlungen zu machen, sei schließlich nach dem Ersten Weltkrieg kläglich gescheitert.64 1945 musste nicht ausdrücklich gesagt werden, dass damit die Prozesse vor dem Leipziger Reichsgericht ab 1921 gemeint waren. Nach Artikel 227 und 228 des Versailler Vertrages sollte der deutsche Kaiser Wilhelm II. als Alleinverantwortlicher vor einem zu bildenden Internationalen Strafgericht verurteilt werden, erhielt aber von den Niederlanden Asyl. Frankreich hatte darüber hinaus eine Liste von deutschen Beschuldigten erstellt, die ebenfalls angeklagt werden sollten. In insgesamt 17 Verfahren kam es zu zehn Verurteilungen und sieben Freisprüchen, Hunderte weiterer Verfahren wurden eingestellt.65 Diese im Friedensvertrag geforderten deutschen Prozesse wurden von den Kriegsgegnern Deutschlands als inadäquat beurteilt.66
Dass staatliche Repräsentanten und Militärs nicht über dem Gesetz stehen, war somit für Deutschland keine neue Erfahrung. Jackson unterstrich das mit der Maxime, dass der Gedanke des Rechts nicht nur das Verhalten kleiner Leute beherrschen dürfe, sondern dass „auch die Mächtigen, die Herrscher selbst ‚Gott und dem Gesetz Untertan sind‘“, die schon ein oberster englischer Richter im 17. Jahrhundert gegen seinen König vertreten hatte67 – ein seltener Ausflug des Juristen in die Geschichte. Aber auf welches Recht und Gesetz kann sich die Anklage in dieser Situation berufen? Jacksons letztbegründende Instanz ist die „Weisheit, das Gerechtigkeitsgefühl“ einer überwältigenden Mehrheit aller zivilisierten Menschen, die sich hier im Willen von 21 Regierungen ausdrücke.68 Der amerikanische Jurist beansprucht damit universelle Legitimität für das Verfahren, jenseits aller rechtstechnischen Einwände.
So wirkungsvoll diese rhetorischen Höhenflüge bis heute sind, sie enthoben Jackson nicht der Notwendigkeit, sein schon im ersten Satz der Rede formuliertes Hauptziel,