Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46. Rainer Huhle
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Jackson in London
Ende Mai 1945 holte sich Jackson in London bei Lordkanzler John Viscount Simon die britische Rückendeckung für das US-amerikanische Vorgehen.22 Nach seiner Ernennung zum Leiter der US-Delegation für Nürnberg durch Truman am 2. Mai 1945 legte er mit Datum vom 6. Juni 1945 dem Präsidenten sein Konzept23 für das Verfahren vor, das dieser billigte und sogleich in die Medien brachte und damit die amerikanische Position festklopfte. Als Bundesrichter hatte er sich beurlauben lassen und hoffte, etwas naiv, nur „einen Sommer lang“ weg zu sein.24
Mit dieser präsidentialen Rückendeckung kam er im Juni 1945 zu den Londoner Gesprächen, durch die das IMT dann endgültig in Form des “Londoner Statuts” beschlossen wurde. Ende Juli flog er nach Potsdam zur Konferenz und ließ sich noch einmal ausdrücklich den politischen Segen für sein juristisches Konzept geben, notfalls auch um den Preis des Scheiterns.25 Dennoch verstand er es, Lösungen zu finden, mit denen alle einverstanden sein konnten oder auf amerikanischen Druck hin auch sein mussten. Starken Gegenwind gab es für Jackson und seine Delegation vor allem beim Anklagepunkt „Verschwörung“, den Frankreich und die Sowjet-Union nicht nachvollziehen konnten.26 Am 8. August unterzeichnete Jackson für die Vereinigten Staaten das Londoner Statut. Bevor der Prozess in Nürnberg startete, erklärte er am 9. September im New York Times Magazin,27 worauf es bei dem Statut besonders ankomme: Wer Angriffskriege führt, muss als Person angeklagt und bestraft werden, gerade wenn und weil Kriege immer die ganze Bevölkerung des gegnerischen Staates treffen; das sei bei modernen Kriegen schon ein Wesenszug geworden. Und auch die rassische und religiöse Verfolgung der eigenen Bevölkerung sei ein Verbrechen gegen die internationale Gemeinschaft.
Jacksons Quellen und Vorlagen
Bei aller Bewunderung, die schon die Zeitgenossen Jacksons Rolle in Nürnberg und insbesondere seiner Eröffnungsrede entgegenbrachten, ist klar, dass auch Jackson ebenso wie seine Kollegen der anderen Mächte dabei auf die Unterstützung eines großen Teams angewiesen war. Dies betraf nicht nur die zahlreichen Details der Anklage und ihr Beweismaterial, sondern durchaus auch substantielle Teile von Jacksons Argumentation. Bis Ende 1945 war sein Stellvertreter in Nürnberg General William J. “Wild Bill” Donovan, der seit 1942 den Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS) aufbaute.28 Neben den im engeren Sinn geheimdienstlichen Spionagetätigkeiten unterhielt das OSS vor allem eine große wissenschaftliche Forschungsabteilung, den “Research and Analysis Branch” (R&A),29 die im Wesentlichen wissenschaftlich auf der Basis von zu 80–90 Prozent öffentlich zugänglichen Quellen arbeitete.30 Ihr Personal bestand hauptsächlich aus deutschen Emigranten aus dem Umfeld des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Zu den bekanntesten Mitarbeitern des R&A gehörten die linken Sozialwissenschaftler und Juristen Otto Kirchheimer, Herbert Marcuse und vor allem Franz Neumann, der seit 1943 die Leitung der Forschungsabteilung für Nazi-Deutschland innehatte. Zu den Aufgaben dieser Abteilung gehörte ausdrücklich auch die Zuarbeit für die NS-Prozesse.
Franz Neumanns „Speerspitzentheorie“ der Judenverfolgung
Franz Leopold Neumann, geboren 1900 als Sohn eines jüdischen Kleinhändlers in Kattowitz, studierte Jura, Ökonomie und Philosophie, nahm an der Revolution 1918 teil, wurde in der Weimarer Republik ein wichtiger Rechtsberater der SPD und Arbeitsrechtler der Gewerkschaften, musste schließlich 1933 fliehen, zunächst nach London, wo er eine zweite juristische Promotion erwarb, 1936 dann in die USA, wo er ohne feste Anstellung mit dem Institut für Sozialforschung arbeitete. Seine umfassenden Analysen des NS-Staates veröffentlichte er 1942 in dem Buch “Behemoth”, das bis heute zu den Standardwerken über den Nationalsozialismus zählt und 1944 in einer erweiterten Neuauflage erschien.31 Aufgrund dieser Arbeiten wurde er 1942 vom OSS angeheuert.
In einem seiner ersten Dokumente für das R&A bezeichnete Neumann den Antisemitismus (bzw. die Judenvernichtung) als „Speerspitze des universellen Terrors“ der Nationalsozialisten. In einer längeren Passage, die sich wortgleich auch in “Behemoth” findet,32 bezeichnete er die Judenvernichtung als lediglich ersten Schritt auf dem Weg der Nazis zur Vernichtung auch anderer Völker und der Zerstörung aller freien Institutionen, Religionen und Gruppen. „Man kann diese Theorie die Speerspitzentheorie des Antisemitismus nennen.“33 Dieser Ansatz stellte zwar keine Verharmlosung der Judenvernichtung dar, wie gelegentlich behauptet wird, denn Neumann arbeitete ihre Dimension klar heraus, aber er stellte sie nicht als etwas unvergleichbar Einzigartiges dar, sondern wies ihr stattdessen einen strategisch herausragenden Platz in der Kette der sonstigen NS-Verbrechen zu. Die Juden, meinte Neumann, seien das Experimentierfeld dafür gewesen, einen Feind aufzubauen und zu zerstören, da sie stark genug seien, dass man sie als Bedrohung darstellen konnte, aber zu schwach, um wirklich eine Gefahr zu bilden.34
Dieser analytische Ansatz, der sich deutlich von der damaligen sowjet-kommunistischen Faschismustheorie, aber genauso von auf die Singularität des Holocaust zielenden neueren Interpretationen unterscheidet, liegt auch Jacksons Anklagerede zugrunde. Ohne Neumann zu nennen, erklärte er, man habe den Antisemitismus „zutreffend als „Lanzenspitze [spearhead] des Schreckens“ bezeichnet“.35 Fast wörtlich übernimmt er auch Neumanns Interpretation der Rolle der Judenverfolgung: „Sie waren wenig genug, um hilflos zu sein, aber zahlreich genug, um als eine Gefahr hingestellt zu werden.“36 Neumanns Grundthese, dass die Judenverfolgung Teil einer umfassenderen Politik sei, in der sie letztlich Mittel zu einem anderen, umfassenderen Zweck37 sei, durchzieht Jacksons Rede, entsprach sie doch perfekt seiner Vorstellung von einer Alles umgreifenden Verschwörung zur Kriegsvorbereitung:
„Die Verfolgung der Juden war eine ununterbrochene und vorsätzliche Politik, die sich gegen andere Völker in gleicher Weise richtete wie gegen die Juden selbst. Der Antisemitismus wurde gefördert, um die demokratischen Völker zu spalten und zu verbittern und ihren Widerstandsgeist gegen den Angriff der Nazis zu schwächen.“38
Doch ebenso wenig wie Neumann hindert ihn diese Sicht, die einmalige Ungeheuerlichkeit des Verbrechens an den Juden herauszustellen. Er führt die Zahl von 5,7 Millionen fehlenden Juden an und erklärt, „die Geschichte berichtet von keinem Verbrechen, das sich jemals gegen so viele Opfer gerichtet hat oder mit solch einer berechnenden Grausamkeit begangen worden ist.“39
Die Struktur der Anklage
Die von den vier Mächten ausgearbeitete Anklageschrift trägt in allen wesentlichen Teilen die Handschrift der Amerikaner. Zu den meistdiskutierten Besonderheiten der Nürnberger Anklage gehört zum einen, dass sie nicht nur gegen (ursprünglich) 24 Personen, sondern auch gegen sechs Organisationen gerichtet war. Das zweite waren die vier Anklagepunkte Verschwörung, Angriffskrieg, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit, die bis auf den Punkt Kriegsverbrechen auch unter den Anklägern umstritten waren. Vor allem der Anklagepunkt der Verschwörung, der im Londoner Statut noch nicht als eigener Anklagepunkt enthalten war, wurde von Jackson mit großem Nachdruck vorgetragen.
Diese beiden entscheidenden Elemente der Anklageschrift wurden ebenfalls von den Analytikern des OSS vorgeformt, vermutlich wieder von Franz Neumann, der auch während der Beratungen in London im amerikanischen Stab anwesend war. Unter den OSS-Dokumenten für die Vorbereitung des IMT findet sich eines, das speziell der Anklage der NS-Organisationen gewidmet ist.40 Zweck des Dokuments war es, die Verantwortlichkeit der verschiedenen NS-Organisationen detailliert zu benennen. Der Entwurf setzt voraus, dass sowohl Personen als auch Organisationen angeklagt werden. Die Anklagepunkte, die den Organisationen darin