Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46. Rainer Huhle
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Die gedruckten Protokolle gehen – soweit es sich nicht einfach um die Reproduktion von vorgelesenen oder bei Gericht hinterlegten Dokumenten handelt – auf eine Kette von Versionen zurück. Im Fall der Reden standen den Protokollanten die Skripte der Redner zur Verfügung, die meist schon während des Vortrags auch den übrigen Prozessteilnehmern vorlagen. Abweichungen der mündlichen Rede vom Skript kamen natürlich auch in Nürnberg vor. Es liegt nahe, und ein bekanntes Beispiel von Jacksons Eröffnungsrede belegt es,10 dass dann eher die schriftlichen Fassungen in das Protokoll eingingen.
Komplexer war es beim gesprochenen Wort ohne Vorlage, also z.B. den Kreuzverhören, Verfahrensanträgen und Ähnlichem. Bekanntlich wurden sämtliche Verhandlungen des Prozesses simultan in die drei übrigen Verhandlungssprachen übersetzt, was eine unerhörte intellektuelle und logistische Leistung darstellte. Auf der Basis dieser Simultanübersetzungen erstellten Stenografen und Stenografinnen während der Sitzungen Mitschriften, die noch am gleichen Tag von den Dolmetschern auf sachliche Fehler und sprachliches „Gestammel“11 durchgesehen wurden, ohne dass Zeit für eine gründliche redaktionelle Bearbeitung war. Einwände gegen Übersetzungen wurden aber gelegentlich schon während der Verhandlung vorgebracht12 und führten zu Korrekturen. Sogar ganze Passagen konnten gestrichen werden.13
Nach Sitzungsende mussten dann die Dolmetscher und Dolmetscherinnen die Abschriften noch einmal durchsehen und korrigieren. So standen am gleichen Abend dann den Prozessbeteiligten die kompletten schriftlichen Protokolle des Tages in den vier Prozesssprachen zur Verfügung.14 Oder aber sie wurden am folgenden Tag noch einmal von einem weiteren Team mit den Tonaufnahmen verglichen, sodass eine schon weitestgehend bereinigte Version für das Protokoll entstand.15 Diese war auch die erste Quelle für die Gesamtausgabe der Protokolle, die allerdings für die Druckausgabe noch einmal von einem bis zu hundertköpfigen Stab von Übersetzerinnen und Übersetzern mit den Tonaufnahmen abgeglichen wurden.16 Die großen Reden wurden vermutlich separat übersetzt, mussten aber gleichwohl kurzfristig auch für die Medien zur Verfügung stehen. Eine vertiefte Beschäftigung mit den vielen, teils neuartigen juristischen Termini während des Prozesses war unter diesen Umständen unmöglich. Auch für Schlüsselbegriffe wie „Crimes against Humanity“ oder „Genocide“ wurden daher im Verfahren und auch noch bei der späteren Endredaktion von den zahlreichen Dolmetschern und Dolmetscherinnen unterschiedliche Übersetzungen gebraucht, die auch in den gedruckten Bänden, die ja bereits ab 1947, also wenige Monate nach Prozessende erschienen,17 nicht vereinheitlicht wurden.
Eine Analyse vor allem der juristischen Fragestellungen und Ideen des Nürnberger Prozesses muss diese großen sprachlichen Varianten immer im Blick haben, die nicht nur auf Übersetzungsprobleme zurückzuführen sind, sondern auch die Tatsache spiegeln, dass das völkerrechtliche und völkerstrafrechtliche Vokabular, das im Nürnberger Prozess und den daraus sich entwickelnden Nürnberger Prinzipien gebraucht wurde, sich noch im Fluss befand. Das gilt für die englische und französische Ausgabe der Protokolle, für die deutsche Edition mussten die Übersetzerinnen und Übersetzer das völker- und menschenrechtliche Grundvokabular teils erst erfinden. Sie kamen dabei oft zu interessanten Lösungen, die auch heute noch zu denken geben. Eine Neuübersetzung würde heute dennoch in vielen Details anders aussehen.
Für die vorliegende Ausgabe haben wir daher nicht nur aus pragmatischen Gründen die originale Ausgabe von 1947 zugrunde gelegt. Sie ist ein Zeitdokument, das uns auch und gerade durch gewisse sprachliche Unebenheiten darauf hinweist, dass sich darunter auch juristische Stolpersteine verbergen können. Die Sprache der vier hier neu gedruckten Reden in deutscher Übersetzung wurde also vollständig respektiert, auch die seinerzeitige Rechtschreibung wurde beibehalten, lediglich offensichtliche Druckfehler wurden bereinigt. Wo nötig und sinnvoll, wird in den einleitenden Essays auf die Originalsprache der jeweiligen Rede Bezug genommen, und es werden Übersetzungsvarianten mit einbezogen, die oft sehr aufschlussreich sein können. Konsequenterweise hat der Herausgeber auch nicht versucht, die terminologische Vielfalt der Originaltexte durch eine einheitliche Sprache in den vier einführenden Essays zu glätten. Alle Zitate aus fremdsprachigen Quellen wurden von den Verfassern ins Deutsche übersetzt, es sei denn es wird ausdrücklich auf eine andere Übersetzung verwiesen.
Eine genaue Lektüre der Anklägerreden stößt also immer wieder auf terminologische Fragen, die tiefreichende inhaltliche Fragen bis heute aufwerfen, die wichtigsten werden in den einzelnen Essays angesprochen. Herausgegriffen sei hier stellvertretend eines, das besonders in der deutschen Version der Prozessprotokolle zu Missverständnissen führen kann: Der letzte und in mancher Hinsicht schwierigste Anklagepunkt in Nürnberg waren die im Englischen als „Crimes against Humanity“ bezeichneten Taten. In der deutschen Ausgabe der Prozessprotokolle wird der Ausdruck überwiegend mit „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ übersetzt. So wird er auch heute in praktisch allen offiziellen deutschsprachigen Texten verwandt, wie z.B. im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. In den Prozessprotokollen finden sich jedoch auch alternative Übersetzungen, z.B. „Verbrechen gegen die Humanität“. Während es in Jacksons Rede „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ heißt, findet man in der Eröffnungsrede des britischen Anklägers Shawcross und gelegentlich auch im Urteil die Übersetzung „Verbrechen gegen die Menschheit“.18 Gleiches gilt für die Übersetzung des Begriffs ins Russische.19
Was war mit „humanity“ gemeint? Aus dem Gebrauch des Begriffs „crimes against humanity“ bzw. „crimes contre l’humanité“ in den Nürnberger Verfahren selbst wie auch in der weiteren Entwicklung dieses Tatbestands im Völkerstrafrecht geht hervor, dass sich „humanity“ hier nicht auf einen Mangel an Menschlichkeit bezieht, sondern darauf, dass diese Verbrechen sich gegen die Menschheit bzw. „das Gewissen der Menschheit“ als Ganzes richteten.20 Für Shawcross waren „Crimes against Humanity“ solche, durch die „das Gefühl der Menschheit zutiefst verletzt“ wird.21 Der große rumänische Völkerrechtler Vespasien Pella formulierte den Sinn des Begriffs „Verbrechen gegen die Menschheit“ einige Jahre später prägnant: „Was diese Taten zu Verbrechen gegen die Menschheit macht, ist die Tatsache, dass sie ihrem Wesen nach gegen das Menschengeschlecht [le genre humain] gerichtet sind.“22 Auch der französische Richter am IMT, Donnedieu de Vabres, betonte, dass von den beiden Bedeutungen von „humanité“ bzw. „humanity“ als „Menschheit“ und „Menschlichkeit“ die erstere die angemessene sei.23 Dieser Sinn war in Nürnberg durchaus klar. Was ein Problem bereitete, war die Frage, ob diese Verbrechen als eigenständiger Tatbestand nach internationalem Recht gelten konnten. Das IMT blieb hier sehr zurückhaltend, vor allem im Urteil, und zog es vor, diese Verbrechen, einschließlich der Vernichtung der Juden, im Kontext der Kriegsverbrechen zu sehen.24
So zeigt sich, dass eine gründliche und kritische Lektüre dieser historischen Texte nicht nur einen Einblick gewissermaßen in die Werkstatt dieses „Meilensteins“ des Völkerrechts geben kann, sondern auch zu Fragen führt, die bis heute kontrovers diskutiert werden. Der Blick zurück auf „Nürnberg“ bringt für diese Fragen keine Lösungen, aber er hilft, sie besser zu verstehen, und zu erkennen, dass auch die Fragen historisch geprägt sind und immer neu formuliert werden müssen.
Der vorliegende Band entstand im Rahmen der langjährigen Arbeit im Nürnberger Menschenrechtszentrum zu den Nürnberger Prozessen und seinen Nachwirkungen.25 Unser besonderer Dank gilt Andreas Gehring, Jonas Nußbaumer, Olga Lévesque und Henrike Claussen für die Unterstützung bei Recherche und Korrektur, sowie Helmut Altrichter, John Barrett, Gerd Hankel, Natal’ja Lebedeva, Kerstin von Lingen und Alfons Söllner für ihre konstruktiven Kommentare.
1 UN-Resolution 95 (I), 11. Dezember 1946.
2 Schon der britische Ankläger Hartley Shawcross bezeichnete das IMT