Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46. Rainer Huhle
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Neben dem Parteiprogramm, der Schrift „Mein Kampf“ und den tatsächlichen Stationen von Machtergreifung, Terror und Kriegsvorbereitung identifiziert Jackson den „Vernichtungsplan des Nazi-Programms“104 am deutlichsten in einem brieflichen Statement des Generaloberst von Fritsch vom 11. Dezember 1938, in dem dieser drei zu gewinnende Hauptschlachten benennt.105 Jackson gliedert seine Analyse analog zu diesen drei vom deutschen General markierten Gruppen.106 Er stützt sich also auf eine eher marginale Äußerung, die sicherlich die NS-Ideologie kennzeichnet, aber kaum beanspruchen kann, die Entwicklung der NS-Politik maßgeblich beeinflusst zu haben und gewiss keine bedeutende historische Quelle darstellt.
Der amerikanische Liberale Jackson scheut sich, direkt die Organisationen der Arbeiterbewegungen in Deutschland zu nennen und spricht lieber etwas zu allgemein von „den Arbeitern“. Auch der Bolschewismus als der von den Nazis deklarierte Hauptfeind kommt in der Rede nicht vor. Aber ohne Zweifel war ein Hauptziel des Nationalsozialismus, die SPD und vor allem die KPD auszuschalten. Auch der indirekte Bezug auf die Organisationen der Arbeiterbewegungen als internationale und damit nicht-nationalistische und nicht-militaristische, sondern eher pazifistische Strömungen ist plausibel, ebenso wie der auf das Judentum als den „Hauptfeind“ in der ideologischen Schlacht. Das Ziel des Planes, so Jackson, konnten die Nationalsozialisten hier nahezu ganz erreichen, geschätzte 60 Prozent der europäischen Juden seien ermordet worden.107 In der Rede kommen hier auch schon detaillierte Zahlen und Beispiele vor: Vernichtung der Juden in Litauen, nachgewiesen durch den Bericht des Gebietskommissars von Sluzk vom 30. Oktober 1941,108 Vernichtung des Warschauer Ghettos, nachgewiesen durch Stroops Bericht,109 usw.
Schwerer nachvollziehbar ist die herausragende Bedeutung, die Jackson der Verfolgung der christlichen Kirchen, auf einer Ebene mit der Arbeiterbewegung und mit dem Judenmord, beimisst. Die christlichen Kirchen sollten, so das Ziel der Nationalsozialisten, keine Macht über die Deutschen mehr haben. Das Christentum ist vielfach mit Recht als einer der geistigen Hauptgegner beschrieben worden.110 Aber waren die Kirchen damit schon zum Hauptfeind neben Judentum und Arbeiterbewegungen geworden? Jacksons Beispiel aus Baden-Württemberg ist schwach und erscheint eher zufällig.111 Der NS-Staat schloss mit dem Vatikan 1933 ein Konkordat ab, sodass die Katholische Kirche in Deutschland in ihrer institutionellen Funktionalität bestehen bleiben konnte – trotz der oft scharfen Auseinandersetzungen und der Verfolgung einzelner Priester.112 Auch die Evangelischen Landeskirchen blieben als Institutionen unangetastet; das Projekt „Deutsche Christen“ scheiterte letztendlich. Die „Bekennende Kirche“ konnte nicht wirklich ein Machtfaktor werden.113 Was Jackson bewog, den christlichen Kirchen im Rahmen der Darstellung der Entwicklung der Nazi-Verschwörung so großen Platz in seiner Rede einzuräumen, ist nicht nachgewiesen, es sei denn man nähme für bare Münze, dass er der Aufzählung des Generals Fritsch’s folgte. Die von ihm viel herangezogenen R&A Analysen des OSS enthalten Derartiges jedenfalls nicht, sieht man von einer knappen Liste bei Marcuse ab, der unter den verfolgten Gruppen nach den Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftern ebenfalls „militante Priester“ beider Kirchen aufzählt.114
Den größten Raum und die größte Emphase reserviert Jackson bei seiner Beschreibung des Nazi Plans jedoch den Juden. Fast ein Sechstel seiner gesamten Rede ist den „Verbrechen gegen die Juden“ gewidmet, mit dem er nach der Pause am Nachmittag des 21. November seine Rede fortführt. Diese besondere Hervorhebung der „meisten und wildesten Verbrechen“ der Nazis, wie Jackson gleich eingangs die Judenverfolgung bezeichnete, ist umso bemerkenswerter, als diese gar nicht in seinen eigentlichen Aufgabenbereich, die Darstellung der Verschwörung, fielen. Entgegen der später im Prozess allgemein akzeptierten Beschränkung des Verschwörungsvorwurfs auf die Kriegsvorbereitung bezieht Jackson hier noch sehr klar die Vernichtung der Juden mit ein:
„Die Verschwörung oder der gemeinsame Plan, die Juden auszurotten, wurde so überlegt und gründlich betrieben, daß dieses Ziel der Nazis trotz der deutschen Niederlage und trotz ihrem Sturze weitgehend erreicht worden ist.“115
Wie kaum an einer anderen Stelle seiner Rede zeigt Jackson hier auch persönliche Gefühle, wenn er sich direkt an die Richter (und indirekt an Alle) wendet und erklärt, es falle ihm schwer, in die Gesichter von Menschen zu blicken, die solcher Taten fähig waren. Doch gerade dieses Zugeständnis an seine eigene emotionale Reaktion und die der Zuhörer ist ihm sogleich Argument für seine prinzipielle Linie, Emotionen aus dem Verfahren soweit als möglich herauszuhalten. „Wenn ich diese Greueltaten mit eigenen Worten wiedergäbe, – sagt er – würden Sie mich für maßlos und unzuverlässig halten.“ Und „glücklicherweise“ brauche man kein anderes Zeugnis als das der Deutschen selbst, um diese Verbrechen nachzuweisen. Und damit ist Jackson zurück im sicheren Geleis der dokumentarischen Beweisführung. Mit für die Zeit beachtlicher Detailkenntnis zeichnet er dabei nicht nur die Geschichte des deutschen Antisemitismus und dessen fortschreitender Radikalisierung nach, sondern nennt auch Zahlen, die erstaunlich nahe an denen liegen, die später die historische Forschung ermittelt hat. Inhaltlich folgt er dabei, wie oben gezeigt, den Analysen Neumanns.
Kollektive und individuelle Schuld, Schuld verbrecherischer Organisationen
Die Nazi-Verschwörung richtete sich als Angriffskrieg gegen andere Staaten, als Summe von Kriegsverbrechen gegen die Völker in Europa und als Terror und Gewalt gegen die Würde des eigenen Volkes, gegen die natürlichen und unveräußerlichen Rechte auch der Deutschen. So zumindest versteht Jackson das Verhältnis der Nazis zum deutschen Volk.116 “Conspiracy” also auch gegen das eigene Volk – damit richtet sich Jacksons Rede auch gegen die These von einer Kollektivschuld der Deutschen, wie sie damals von manchen Politikern der Alliierten teils in großer Schärfe vorgetragen wurde.117 Der individuelle Schuld- und Verantwortungsbegriff ist in Jacksons Verständnis von Strafgerichtsbarkeit unabdingbar, er widmet ihm sogar einen eigenen, „Die Einzelverantwortlichkeit“ überschriebenen Abschnitt, in dem er unterstreicht, was später in den „Nürnberger Prinzipien“ festgeschrieben werden sollte: Weder Berufung auf Immunität und „Staatsakte“ noch die auf „höheren Befehl“ kann nach dem Londoner Statut vor Strafverfolgung festgelegten Verbrechen schützen.118
Aber die Kehrseite des Verschwörungsbegriffes liegt darin, dass damit nicht die breite und vielfach freiwillige Beteiligung an den Kriegsverbrechen und den Verbrechen gegen die Menschheit völkerrechtlich erfasst werden kann. Die viel kritisierte Anklage nicht nur von Personen, sondern auch von „verbrecherischen Organisationen“ erklärt sich von daher als der Versuch, neben der Feststellung der Schuld von Individuen auch die kollektive Dimension zu erfassen, in der diese Verbrechen erst möglich wurden. Wenn die vor Gericht sitzenden Angeklagten die Verschwörer waren, dann bildeten die angeklagten Organisationen den Rahmen, in dem diese Verschwörung realisiert wurde.
Der Ankläger will dem Gericht in Bezug auf die politischen, polizeilichen und militärischen Organisationen beweisen, „daß sie den inneren Zusammenhang