Emscher Zorn. Mareike Löhnert
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Er war zu dünn. Seine mageren Arme ragten wie Striche aus den Ärmeln seines T-Shirts hervor, und unter dem Stoff wirkten die Knochen seiner schmalen Schultern wie spitze Dolche. Immerhin war sein Aussehen gut geeignet, um einen Feind zu täuschen, redete er sich ein. Er mochte vielleicht einen dürren Körper haben, aber er war zäh und in einer Schlägerei nahezu schmerzunempfindlich.
Kurz steckte er den Kopf ins Wohnzimmer. »Tschüss Mutter, ich bin mal kurz weg.«
Sie saß hoch aufgerichtet auf der Couch, stopfte sich abwesend Pralinen in den Mund und starrte wie hypnotisiert auf das flimmernde Fernsehbild. »Mmmh«, murmelte sie, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.
Schön, dass sie glücklich war.
Bevor Jakob die Haustür hinter sich zuzog, sah er genau, wie Jesus auf dem Bild im Flur die Stirn runzelte und ihm argwöhnisch hinterhersah.
Das animalische Grölen der Fans riss ihn mit wie eine Sturmflut, als er neben ihnen über die Möllerbrücke in Richtung Stadion lief. Das sonst so friedliche Kreuzviertel, mit seinen hübsch sanierten Altbauten, normalerweise überlaufen von Pädagogen, Lehrern, Studenten, Alternativen, ökologisch korrekten Eltern mit Kleinkindern und linken Möchtegernintellektuellen, verwandelte sich bei einem Heimspiel in einen brodelnden Sumpf. Durch die große Menschenansammlung und die vielen Polizisten kamen sie nur langsam voran. Sie bewegten sich in Schneckentempo und als eine gesammelte Macht. In ihrer einheitlichen grellgelben Fantracht, gemeinsame Parolen und Lieder brüllend, wirkten die Fußballfans wie Soldaten in Uniform, die bereit und auf dem Weg waren, um in den Krieg zu ziehen. Jakob spürte das Kribbeln, das sich von seinen Fingerspitzen aus in den gesamten Körper ausbreitete, als würden Tausende von Bienen unter seiner Haut beginnen zu brummen.
Die Nachmittagssonne brannte so heiß, dass die von Testosteron geschwängerte Luft zu flimmern schien.
»Tod dem SV 30«, brüllte ein krank aussehender, rothaariger Mann neben ihm, und Tropfen seiner Spucke trafen Jakob an der Stirn.
»Tod dem SV 30«, brüllten alle anderen zurück.
Sie waren eine Einheit. Eine gelbe Einheit voller Kraft und Unbesiegbarkeit. Kurz überkam Jakob das trügerische Gefühl dazuzugehören, aber er schüttelte den Gedanken schnell wieder ab. Er würde sich keiner Gruppe Hooligans anschließen und Teil von ihnen werden wollen. Er war schon immer ein Einzelkämpfer gewesen und würde das auch bleiben. Wenn es drauf ankommen würde, hätte er kein Problem damit, auch Fans der eigenen Mannschaft zusammenzuschlagen, wenn sich die Möglichkeit ergeben würde. Er hatte nur einen Grundsatz, an den er sich eisern hielt, wenn es um Gewalt ging. Er schlug sich nur mit Gegnern, die sich ebenfalls schlagen wollten. Niemals würde er sich an einem wehrlosen Opfer vergreifen, das würde gegen seine Prinzipien verstoßen. Gut, dass es genug Trottel gab, die sich gerne prügeln wollten.
Am Stadion angekommen, musste er die Tortur der Durchsuchung am Eingang über sich ergehen lassen.
Mit zusammengepressten Lippen ließ er sich widerstrebend von den Ordnern abtasten. Endlich ließen die Typen von ihm ab und er durfte weitergehen.
Erleichtert atmete er auf, besorgte sich an einem der Getränkewagen Bier, drängte sich durch die aufgebrachte Menge und stellte sich in seinen Block auf der Südtribüne.
Die Spieler liefen ein, das Spiel begann. Die Fans tobten, obwohl noch gar nichts passiert war. Er sah sich im Publikum um. Ausverkauftes Stadion. Das Übliche.
Die Menschen ähnelten dicht aneinandergedrängten Schafen in einer Herde, sie standen und glotzten, machten bei jeder Ballberührung der eigenen Mannschaft ungelenke Sprünge, umarmten ihre Nachbarn, die sie normalerweise auf der Straße nicht mal grüßen würden, und klatschten bei jeder Situation in die Hände wie geistig zurückgebliebene Kinder. Jeder bemühte sich sichtlich, endlich mal aus sich hinauszugehen und die Sau rauszulassen. Jakob seufzte. Das Spiel langweilte ihn.
Volle Bierbecher wurden nach vorne geworfen, das Gegröle der Fangesänge wurde lauter.
Jakob begann, sich innerlich darauf vorzubereiten, was draußen auf der Straße gleich passieren würde. In absehbarer Zeit würde sein eigenes Spiel beginnen. Er schloss die Augen und sah das verschwommene Bild eines konturlosen Gesichts vor sich und seine eigene Faust, die mitten hineindrosch. Zerrissene blaue Trikots voller Blut tauchten vor seinem inneren Auge auf. Er lächelte.
»Hömma, hat dir schon mal jemand gesagt, dass du aussiehst, wie ein kleiner Junge, wenn du lächelst? Richtig süß«, lallte ein betrunkener Fußballfan neben ihm und riss ihn aus seinen Gedanken. Jakob versuchte, ihn mit seinen Blicken zu töten und der Mann war schlau genug, ihn in Ruhe zu lassen.
Erst als die ersten Besucher des Fußballspiels ihn grob in den Rücken stießen, um sich an ihm vorbei zu den Treppen zu drängeln, bemerkte er, dass das Spiel zu Ende und abgepfiffen worden war. Das Publikum schob ihn Richtung Ausgang und zog ihn mit sich. Angespannt verließ er mit den anderen das Stadion.
Sobald er auf der Straße war, kam die Wut mit voller Kraft zurück und brüllte ihn an, dass sie endlich hinausgelassen werden wollte.
Breitbeinig und mit erhobenem Kopf stolzierte er provozierend langsam durch die herumstehenden Menschen, die Bier trinkend vor dem Stadion herumlungerten, sich aufgebracht über das Spiel unterhielten und nicht nach Hause wollten.
Misstrauisch beäugte er die Polizisten, die sich, mit Helmen, Schutzschildern und Knüppeln bewaffnet, am Straßenrand aufgereiht hatten und nur darauf zu warten schienen, dass es endlich losging. Drei der gegnerischen Fans standen etwas abseits der anderen, die sich sammelten, um geschlossen Richtung Bahnhof zu gehen.
Der größte der drei Männer fing seinen Blick auf und fixierte ihn, ohne zu zwinkern. Arrogant musterte er ihn von oben nach unten. Seine Lippen öffneten sich, und er bleckte seine schiefen, gelblichen Zähne. Kaum erkennbar nickte er mit dem Kopf in Jakobs Richtung.
Jakob reagierte sofort. Das Adrenalin pochte in seinen Adern.
Er spurtete los, rannte auf den Mann zu, boxte ihm erst mit der Faust in den Magen, umrundete ihn und sprang von hinten auf seinen Rücken. Er schlang ihm die Arme von hinten um die Kehle und drückte mit aller Kraft zu.
»Scheiß SV 30, du Hurensohn«, keuchte er in sein Ohr, »jetzt bist du dran.«
Der Große versuchte, ihn abzuschütteln, aber es gelang ihm nicht. Wie ein Sack hing Jakob auf seinem Rücken und presste die Arme immer fester um seinen Hals.
»Ey«, schrie einer der Kollegen des Mannes, »bist du wahnsinnig? Der kriegt keine Luft mehr. Lass ihn los, du Spinner.« Er versuchte, Jakob von hinten zu packen, doch dieser trat ihm voll ins Gesicht.
Jakob hörte das Knacken seiner Nase und trat direkt noch einmal zu. Der Mann krümmte sich, vergrub das Gesicht in den Händen und wandte sich ab. Inzwischen hatte Jakob den Großen zu Boden geworfen, stürzte sich auf ihn und schlug ihm mit der Faust immer wieder ins Gesicht. Der erste Schlag war wie eine Befreiung. Jeder Muskel seines Körpers befand sich im Einklang, jede Sehne war angespannt. Endlich konnte er sich spüren und war eins mit seinem Körper.
Jakob roch das Blut, bevor er es sah. Tief atmete er den metallischen Geruch ein. Ein Gefühl von Freiheit begann, sich in seiner Brust auszubreiten, das ihn schwindelig machte.
Wie ein wildes Tier blickte er um sich in die verschwommene Traube von Menschen, die sich