Kieler Courage. Kay Jacobs

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Kieler Courage - Kay Jacobs

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nicht? Sie muss ihn gekannt haben. Ein Streit? Um Geld?«

      David wechselte die Seite.

      »Gerlach hat ein Rezept in ihrem Nachttisch gefunden, das sie noch nicht eingelöst hat.« Rosenbaum zog es aus der Tasche, fast hätte er es dort vergessen. »Von einem Dr. Max Stapelhöhe, praktischer Arzt, Dahlmannstraße.«

      »Max Stapelhöhe – würde eher zu einem Lagerarbeiter passen, nicht?« Hedi nahm das Rezept und schaute es sich an. »Onopordum-Extrakt, das kenne ich. Das habe ich auch mal genommen. Wegen meiner Kreislaufprobleme in der Schwangerschaft. Hat nicht geholfen. Homöopathie. Alles Hokuspokus. Au!«

      David hatte seine Sättigungsgrenze erreicht, was er im Allgemeinen dadurch kundzutun pflegte, dass er seiner Mutter in die Brustwarze biss. Hedi reichte das hinterhältige Verdauungspaket Rosenbaum herüber, der es sich mit ein paar Leinentüchern bewaffnet über die Schulter legte. Die drei waren ein eingespieltes Team.

      »Die Zimmergenossin verhält sich eigenartig. Sie verheimlicht irgendetwas«, sagte Rosenbaum und klopfte David auf den Rücken. »Vielleicht könnten Sie mal mit ihr sprechen?«

      »Klar, Chef. Mache ich, wenn Sie wollen.«

      Dass die beiden sich trotz all der Vertrautheit noch immer siezten, wirkte auf jeden, der es mitbekam, einigermaßen befremdlich. Nicht nur die Eingeweihten, die Familie, die Nachbarn oder der Pastor wunderten sich, auch Fremde, man spürte ein persönliches Band zwischen ihnen, das zu dieser förmlichen Anrede partout nicht passte. Aber beide wollten es so, Hedi, weil sie die feste Absicht hatte, wieder als seine Assistentin zur Polizei zurückzukehren, Rosenbaum, weil er hoffte, auf diese Weise eine zu große Nähe verhindern zu können.

      Nach ein paar Rülpsern war David bereit für den Verdauungsschlaf, und für Rosenbaum war es Zeit zum Aufbruch. Im Flur streifte er seinen Mantel über, zog einen Zwanzigmarkschein aus seinem Portemonnaie und legte ihn beiläufig auf die Kommode. Hedi beachtete es nicht. Nachher würde sie den Schein in einen Briefumschlag legen, zu den anderen Scheinen, die Rosenbaum auf der Kommode hinterlassen hatte, bei seinem letzten Besuch und dem vorletzten und allen Besuchen seit sieben Monaten, seit Davids Geburt. Sie hatte ihm gesagt, dass sie kein Geld von ihm haben wolle, und sie hatte angekündigt, dass sie das Geld, das er ihr trotzdem geben würde, sammeln und ihm zurückgeben werde. Auf sein Verhalten hatte das keine Auswirkung. Denn David hatte keinen Vater, der Alimente zahlen würde. Rosenbaum hatte nie danach gefragt, er wusste nicht, wer der Erzeuger war, und Hedi hatte es ihm nie erzählt. Doch es stand für Rosenbaum fest: Einen anderen Vater als ihn gab es nicht, brauchte es auch nicht. Und wenn Hedi ihm das Geld tatsächlich eines Tages zurückgeben würde, dann würde er damit ein mündelsicheres Sparbuch für David anlegen.

      III

      »Was heißt ›verschwunden‹?«

      »Also … nicht mehr da.«

      »Sie veralbern mich gerade.«

      »Nein.«

      »Sie ist weg?«

      »Ja … verschwunden eben.«

      Es war Freitagvormittag, der 12. März 1920. Es war nicht etwa Freitag, der 13., auch nicht der 1. April, sondern nur irgendein Freitagvormittag in der Blume. Rosenbaum setzte sich auf den Stuhl an seinem Schreibtisch. Eigentlich sank er eher auf den zufällig hinter ihm stehenden Stuhl und wirkte dabei wie ein Schlachtschiff, das einen schweren Treffer abbekommen hatte, dann sank und auf einer Sandbank aufsetzte, bevor es auseinanderbrach und vollständig unterging. Schon einmal war Rosenbaum in dieser Weise auf seinen Stuhl gesunken, als vor elf Jahren ein Polizeibote verschwunden war. Doch jetzt überbrachte Gerlach keine Information über einen verschwundenen Lebenden, sondern über eine abhandengekommene Tote, eine ganz bestimmte auch noch: Der Leichnam von Katharina von Lettow-Vorbeck war verschwunden.

      Gerlach schloss die Tür und setzte sich vor Rosenbaums Schreibtisch. Er war erkennbar aufgebracht gewesen, hatte sich allerdings wieder ein wenig beruhigt.

      »Ich habe in der Gerichtsmedizin angerufen, um zu fragen, wann wir den Obduktionsbericht bekommen können. Professor Ziemke sagte, er sei gerade erst in die Klinik gekommen, habe sich vorgenommen, mit der Obduktion zu beginnen, und der Bericht würde gegen Mittag fertig sein. Fünf Minuten später rief er an und sagte, die Leiche sei weg, sein Sektionshelfer habe sie schon am frühen Morgen dem Militär übergeben.«

      »Wie? ›Dem Militär übergeben?‹«

      »Er sagt, vor der Tür stand plötzlich ein Sanitätswagen des Heeres und die Fahrer hatten eine Übernahmeanordnung der Reichswehr-Brigade 9 dabei. Der Sektionshelfer soll sich noch aufgeregt haben, weil eine Leiche nicht in einen Sanitätswagen gehöre. Aber er fügte sich, als der Fahrer sagte, dass in seinem Wagen schon fast so viele Tote wie Verletzte transportiert worden seien und dass darin auch oft ein Verletzter erst zu einem Toten wurde.«

      Rosenbaum schaute in seine Kaffeetasse, die noch vom Vortag halb leer auf seinem Schreibtisch gestanden hatte. Wäre Hedi noch da gewesen, wäre das nicht passiert.

      »Ich habe nachgeschaut«, fuhr Gerlach fort. »Die Reichswehr-Brigade 9 des Übergangsheeres ist in Schwerin stationiert. Der Kommandant ist zugleich der Militärgouverneur von Mecklenburg und Holstein: Generalmajor Paul von Lettow-Vorbeck.«

      Das ergab Sinn. Der Kommissar klopfte die Taschen seines Sakkos und der Hose nach Zigaretten ab, wurde bei der Brusttasche fündig und steckte sich eine an. Er war zu Massary Delft gewechselt, die gute Massary, edel wie der Name, ein stilvoller Ersatz für die Zigarren, die er früher geraucht hatte, und derzeit das Einzige, was man ohne größere Mühe bekommen konnte. Dann griff er zum Telefonhörer, ließ sich eine Verbindung mit der Reichswehr-Brigade 9 herstellen, und nach einer Minute hatte sich ein temperamentvoller Gedankenaustausch mit dem Adjutanten des Brigadekommandanten entwickelt.

      »Sie stellen mich jetzt sofort zu Herrn Lettow-Vorbeck durch!«

      »Generalmajor von«, rhetorische Pause, »Lettow-Vorbeck ist nicht zu sprechen.«

      »Wenn Sie mich nicht augenblicklich verbinden, lasse ich Herrn Lettow-Vorbeck zur Vernehmung vorführen!«

      »Ja, machen Sie das.«

      Rosenbaum war kurz davor, Wörter zu benutzen, für die er durchaus belangt werden könnte. Natürlich hatte er nicht die Befugnis, den Militärbefehlshaber von Mecklenburg und Holstein vorführen zu lassen, aber die Chuzpe dieses Vorzimmer-Leutnants brachte ihn aus der Fassung. Um zu vermeiden, was er später bereuen würde, reichte er den Hörer an Gerlach weiter, dessen Bemühungen zwar wesentlich diplomatischer, aber genauso erfolglos waren. Seine Versuche zu erklären, dass die Leiche dringend untersucht werden müsse – das liege doch auch im Interesse des Herrn Generalmajor – und dann so schnell wie möglich zur Bestattung freigegeben werde – Ehrenwort –, halfen nicht weiter als der Hinweis, dass sich die Leiche im Gewahrsam der Strafverfolgungsbehörden befunden habe, als sie bei der Gerichtsmedizin gelegen hatte, und ihr Abtransport einen rechtswidrigen Gewahrsamsbruch darstelle. All das führte nicht weiter als zu der Empfehlung, eine schriftliche Eingabe zu verfassen, man werde sich zu gegebener Zeit damit befassen.

      Im Hintergrund tobte der Kommissar und presste Wörter, die er nicht benutzen sollte, durch gefletschte, zusammengebissene Zähne. Gerlach zog es vor, das Telefonat zu beenden.

      »Der hängt noch in seinem preußischen Militärstaat fest«, schimpfte Rosenbaum, ohne sich zügeln zu müssen. »Wir sind jetzt Bürger und keine Untertanen mehr, das hätten Sie diesem Betonkopf mal sagen

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