Schneesturz - Der Fall des Königenhofs. Julia Heinecke

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Schneesturz - Der Fall des Königenhofs - Julia Heinecke

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genaue Gegenteil von Bibiane. Mit ihr war es leicht. Warum konnte Bibiane nicht so sein?

      »Fang mich doch«, forderte Philo Bibiane auf. Sie hatten das Vieh auf die Weide getrieben, das jetzt zufrieden graste und keine Anstalten machte, den Wiesenabschnitt, von dem es heute Nachmittag fressen sollte, zu verlassen. Zeit für Bibiane, Philo und Blasius, sich abzulenken. Oft sammelten sie Pilze oder Beeren, aber am liebsten spielten sie Verstecken.

      Die beiden Buben und Bibiane verbrachten seit dem Einzug der Tritschlers jeden Tag miteinander. Sogar am Sonntag zogen sie nach dem Kirchgang auf die Weide. Bibiane genoss es, draußen zu sein, weg von dem Hof, auf dem an jeder Ecke eine Aufgabe wartete. Die Freiheit auf der Weide erschien ihr grenzenlos. Kälte und Regen, was beides selbst jetzt im Sommer häufig vorkam, nahm sie gerne in Kauf. Philo und Blasius zeigten ihr alle Stellen im Wald und auf den Höhen, sodass sie sich schon bald gut auskannte.

      Beim Fangen- und Versteckenspielen weiteten die drei Kinder ihren Umkreis immer mehr aus. Heute vergaßen sie darüber die Zeit. Als es zurück an den Hof gehen sollte und Bibiane nassgeschwitzt zur Weide gerannt kam, stand Philo schon da und zählte die Schafe, Ziegen und Kühe.

      »Es fehlt eine Kuh«, stellte er fest, »die Liesel.«

      Bibiane erschrak. Ihr Vater würde wütend werden, wenn sie ohne ihre beste Milchkuh auf den Hof zurückkamen. Jetzt kam auch Blasius angelaufen.

      »Dann müssen wir sie suchen«, erklärte er. »Jeder von uns schwärmt in eine Richtung aus. Bibiane, lauf du dort Richtung Tal, Philo schaut da hinten, und ich laufe weiter hoch.«

      Bibiane nickte. Sie griff nach ihrem Weidestock, mit dem sie normalerweise das Vieh in Schach hielt, und wandte sich Richtung Tal. Anfangs konnte sie Philo und Blasius noch hören, bis ihre Stimmen schließlich nicht mehr wahrzunehmen waren.

      Sie lief eine Weile bergab und rief nach der Kuh. Schließlich hörte sie weiter unten eine einzelne Kuhglocke.

      »Liesel?«

      Bibiane sah eine Abzweigung in einen schmalen, zugewachsenen Weg. In diesem kleinen Seitental war sie noch nie gewesen. Es kam ihr in der beginnenden Dämmerung noch düsterer vor als das Wagnerstal. Vorsichtig lief sie hinein. Der Weg war unregelmäßig, und Bibiane schmerzten die Steinchen und Ästchen unter ihren nackten Fußsohlen. Aber sie hatte Glück. Das Läuten der Kuhglocke kam näher.

      »Liesel, wo bist du denn?«

      Bibiane nahm plötzlich einen Schatten wahr. Das musste die Kuh sein.

      »Liesel, komm her, was machst du für Sachen?«, rief Bibiane und lief auf den Schatten zu. Jäh hielt sie an und stieß einen spitzen Schrei aus.

      »Der Teufel!«, entfuhr es ihr.

      Sie drehte sich um und rannte, so schnell sie konnte, den Weg wieder hoch. Die Schmerzen durch die Steinchen und Ästchen spürte sie nicht. Schließlich stieß sie auf Philo und fing an zu weinen.

      »Was ist los, Bibi, warum hast du so geschrien?«

      »Da unten … dort ist der Teufel, ich schwör’s.« Bibiane zitterte.

      »Beruhige dich«, erwiderte Philo. »Wo soll das denn sein?«

      »Da unten, die Liesel ist auch dort und kommt nicht.«

      Philo schaute etwas verunsichert, gab sich aber einen Ruck und lief in die Richtung, aus der Bibiane hochgerannt war. Sie folgte ihm zögerlich und mit gehörigem Abstand.

      Schließlich blieb Philo stehen und lachte erleichtert auf. »Aber nein, Bibi. Das ist doch ein alter umgestürzter Baum. Schau, seine Wurzeln sehen nur so aus, als säße dort der Teufel.«

      »Bist du sicher?«

      »Ja, ganz sicher. Schau mal genau hin.«

      Bibiane kam vorsichtig näher, hielt es aber für besser, hinter Philo zu bleiben. Vorsichtig lugte sie hinter seinem Rücken hervor. Jetzt erkannte sie, dass es tatsächlich altes Wurzelholz war. Die Grimasse und die Hörner sah sie trotzdem noch darin.

      »Du musst keine Angst haben«, beruhigte Philo sie. »Komm, jetzt schnappen wir uns die Liesel und machen uns endlich auf den Heimweg. Wir werden bestimmt schon erwartet.«

      Bibiane lachte erleichtert auf. »Aber gib zu, ein bisschen hast du dich auch gefürchtet«, stellte sie fest.

      »Na ja, nicht wirklich«, schwächte Philo ab. »Komm, wir sollten jetzt schnell die anderen Tiere holen und zum Hof laufen. Sonst setzt es noch was.«

      Er fing die Kuh ein und gab ihr mit seiner Geißel die Richtung zu verstehen, und gemeinsam liefen sie zurück zur Weide. Während des ganzen Weges schämte Bibiane sich abgrundtief, dass sie vor Philo in Tränen ausgebrochen war. Sie wollte vor ihren Freunden ganz sicher nicht als schwaches Mädchen dastehen. Doch Philo sagte nichts, sondern lächelte sie nur aufmunternd an.

      Als die beiden auf dem Weidestück ankamen, waren dort keine Tiere mehr zu sehen. Das Vieh wusste, wann es Zeit war, zum Hof zurückzukehren, und hatte sich ohne die Kinder auf den Weg gemacht. Blasius kam aus dem oberen Wald auf sie zugerannt.

      »Verflixt«, keuchte er. »Jetzt hat sich das ganze Vieh schon davongemacht, und wir kriegen erst recht Ärger.«

      Den Kindern blieb nichts anderes übrig, als mit der abtrünnigen Kuh zurückzulaufen. Zwei weitere Kühe und eine Ziege fingen sie auf dem Rückweg noch ein. Bibiane hoffte, dass ihr Vater noch beim Holzfällen war, denn sie hatte Angst vor seiner Wut, wenn er sah, dass die Herde ohne Hirten nach Hause gekommen war.

      Ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Als die drei den Königenhof erreichten, wurden sie von Martin an der Stalltür erwartet. Für alle drei Kinder setzte es Ohrfeigen, weil sie nicht richtig aufgepasst hatten.

      Einige Wochen nach ihrem Einzug saß Walburga am Morgen auf der Bank vor ihrem Haus. Das Öhmden, der zweite Schnitt im Jahr, war vorüber, und die Tritschlers hatten Glück gehabt, dass es nur wenig geregnet hatte und das Gras schnell getrocknet war. Der Heustock ihres neuen Hofes war voll bis zum Rand, sie würden gut über den Winter kommen. Auch heute schien die Sonne mild. Bald würde sie nicht mehr ins Tal reichen und der Schatten überhandnehmen.

      Walburga spürte eine altbekannte Übelkeit in sich aufsteigen. Seit einiger Zeit ging es morgens schon so, und die Bäuerin wusste nur allzu gut, was das bedeutete. Ihr Beten hatte nichts genützt, sie trug ihr elftes Kind unter dem Herzen. Walburga seufzte. Vierzig Jahre zählte sie bald. Ihre Haare waren grau, Falten zogen sich über ihr Gesicht. Wie sehr hatte sie gehofft, dass das nicht mehr passieren würde. Sie und Martin konnten Gott nur danken, dass sie zehn Kinder auf die Welt gebracht hatte, die alle gesund waren und von denen kein einziges gestorben war. Kaum ein anderer Hof in der Umgebung brachte es auf so viel Nachwuchs, und es gab kaum eine Familie, die nicht ein totes Kind zu beklagen hatte. Aber waren zehn nicht genug? Musste ihr Glück noch ein weiteres Mal herausgefordert werden? Walburga wünschte, sie könnte es ändern, und erschrak bei diesem Gedanken. Sie bekreuzigte sich und entschied, mit der Mitteilung an ihren Mann noch etwas zu warten. Sie musste sich erst selbst daran gewöhnen, dass sie schon wieder ein Kind bekam.

      Nach Weihnachten war Walburgas Bauch so groß wie nie zuvor in ihren anderen Schwangerschaften. Martin zog sie auf, dass sie wahrscheinlich schon im Januar niederkommen würde. Doch Walburga war sich sicher, dass dies nicht der Fall sein konnte. Sie ging zur Hebamme nach Neukirch. Der über eine Stunde dauernde Fußmarsch stramm bergauf

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