Verschwundene Reiche. Norman Davies
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Ich wünschte, ich hätte das früher gelesen. Taylor bewunderte zwar allem Anschein nach Trevor-Ropers Historical Essays,10 aber er legte sie seinen Studenten nicht besonders ans Herz.
Die oben angestellten Beobachtungen sind es vielleicht wert, intensiver betrachtet zu werden, und sei es auch nur, weil die etablierte Geschichtswissenschaft auf ihrer Abhängigkeit von den großen Mächten, von Erzählungen über die Ursprünge der Gegenwart und von übermäßig spezialisierten Themen beharrt. Das daraus entstehende Bild des Lebens in der Vergangenheit ist zwangsläufig unvollständig. In Wirklichkeit ist das Leben weitaus komplizierter; es besteht nicht nur aus Triumphen und Erfolgen, sondern auch aus Scheitern, Beinahezusammenstößen und gut gemeinten Versuchen. Mittelmäßigkeit, nicht ergriffene Gelegenheiten und Fehlstarts gibt es überall, aber sie erregen eben kein Aufsehen. Es stimmt schon, das Panorama der Vergangenheit ist mit Größe gespickt, aber gefüllt ist es hauptsächlich mit kleineren Kräften, kleineren Menschen, kleineren Leben und kleineren Gefühlen. Vor allem aber müssen alle, die Geschichte studieren, ständig an die Vergänglichkeit der Macht erinnert werden, denn Vergänglichkeit ist eines der fundamentalen Charakteristika der conditio humana wie der politischen Ordnung. Früher oder später endet alles. Früher oder später versagt das Herz. Alle Staaten und Nationen, egal wie groß, blühen eine Zeit lang und werden dann ersetzt.
Verschwundene Reiche ist mit dieser nüchternen, aber nicht unbedingt deprimierenden Wahrheit im Hinterkopf entwickelt worden. Verschiedene Fallstudien beschäftigen sich mit Staaten, »die einst groß waren«. In anderen geht es um Reiche, die gar nicht auf Größe aus waren. Manche beschreiben Staatsgebilde, die nie eine Chance hatten. Alle jedoch waren Teil Europas, und alle trugen zu jenem seltsamen Haufen krummen Holzes bei, den wir »europäische Geschichte« nennen.
»Verschwundene Reiche« ist ein Ausdruck, der ähnlich wie »Versunkene Welten« viele Bilder hervorruft. Er erinnert an furchtlose Entdecker, die die Höhen des Himalaja oder die Tiefen des amazonischen Regenwaldes durchstreifen; oder an Archäologen, die sich durch lange verlorene Schichten der Grabungsstätten in Mesopotamien oder im alten Ägypten wühlen.11 Der Mythos Atlantis ist nie weit weg.12 Dieses Konzept ist Lesern des Alten Testaments besonders vertraut. Es gab sieben biblische Reiche, so erfahren wir, zwischen dem alten Ägypten und dem Euphrat, und aufopferungsvolle Alttestamentler haben lange und hart an einem zeitlichen und lokalen Rahmen gearbeitet. Man kann über Ziklag, Edom, Zoba, Moab, Gilead, das Land der Philister und Geschur kaum etwas Sicheres sagen.13 Die meisten Informationen bestehen aus flüchtigen Anspielungen wie etwa: »Abschalom aber floh und ging zu Talmai, dem Sohn des Königs Ammihud von Geschur, und David trauerte lange Zeit um seinen Sohn.«14 Heute haben sich nach Jahrtausenden der Veränderungen und Konflikte zwei der Staaten, die einen Anspruch auf die Nachfolge jener sieben Königreiche erheben, seit Jahrzehnten beinahe ausweglos ineinander verbissen. Einer von ihnen hat trotz seiner erdrückenden Militärmacht keinen echten Frieden schaffen können; der andere, dem fast schon die Luft zum Atmen fehlt, wird vielleicht nie auf die Beine kommen.
Natürlich gehört es zur menschlichen Natur, dass jeder gern denkt, Katastrophen passierten immer nur den anderen. Vor allem Nationen, die früher oder auch jetzt noch über ein Reich herrschten und herrschen, haben Schwierigkeiten anzuerkennen, wie schnell sich die Gegebenheiten ändern. Wir Briten, die wir in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein behütetetes Leben führten und in unserer »Finest Hour«C allen Widrigkeiten zum Trotz standhielten, riskieren heute einen Zustand des Selbstbetrugs, der uns vorspiegelt, unsere Lage sei noch immer so gut, unsere Institutionen unvergleichlich, unser Land irgendwie ewig. Vor allem die Engländer leben in seliger Ahnungslosigkeit darüber, dass die Auflösung des Vereinigten Königreichs schon 1922 begann und sich wahrscheinlich fortsetzen wird; mit komplexen Identitäten sind sie nicht so vertraut wie die Waliser, die Schotten oder die Iren. Wenn daher das Ende kommt, wird es für sie überraschend kommen. Wer ernsthaft an das patriotische Lied »There will always be an England«, glaubt, hat keine Ahnung. Und dabei war es einer der immer noch vernommenen Dichter Englands, der im stillen Schatten des Friedhofs von Stoke Poges seine »Elegy« schrieb und das sichere Ende zusammenfasste, das auf Staaten und Menschen gleichermaßen wartet. Thomas Gray kennt die unserem Wesen eigene Eitelkeit:
The boast of heraldry, the pomp of power,
And all that beauty, all that wealth e’er gave.
Awaits alike th’inevitable hour:
The paths of glory lead but to the grave.
Der Wappen Prahlerei, der Pomp der Macht,
Was je der Reichtum und was Schönheit gab,
Sinkt unerlöslich hin in eine Nacht:
Der Pfad der Ehre führet nur ins Grab.15
Früher oder später kommt der Todesstoß. Seit der Niederlage des Dritten Reiches 1945 sind schon für einige europäische Staaten Nachrufe geschrieben worden: für die Deutsche Demokratische Republik (1990), die Sowjetunion (1991), die Tschechoslowakei (1992) und Jugoslawien (2006). Es werden zweifellos noch mehr werden. Die schwierige Frage dabei ist nur, wer der Nächste sein wird. Angesichts seiner gegenwärtigen Dysfunktionalität könnte Belgien Europas nächster Riesenalk werden, oder vielleicht Italien. Es ist unmöglich, sich da festzulegen. Und niemand kann einigermaßen sicher vorhersagen, ob das jüngste Kind der europäischen Staatenfamilie, die Republik Kosovo, untergehen oder schwimmen wird. Aber jeder, der glaubt, dass das Gesetz der Vergänglichkeit für ihn nicht gilt, lebt in einem Wolkenkuckucksheim (ein von Aristophanes geprägtes Wort, das sein Publikum dazu bringen sollte, innezuhalten und nachzudenken).
Vielleicht trägt auch die moderne Erziehung hier eine gewisse Verantwortung. Vor nicht allzu langer Zeit, als alle gebildeten Europäer noch mit einer Mischung aus Evangelien und antiken Texten groß wurden, war ihnen allen die Vorstellung der Sterblichkeit, bei Staaten ebenso wie bei Individuen, nur allzu vertraut. Christliche Gebote wurden zwar weithin missachtet, aber sie sprachen von einem Reich, das »nicht von dieser Welt« war. Die antiken Texte, die angeblich universelle Werte propagierten, waren das Produkt einer hoch geehrten, aber untergegangenen Kultur. Der »Ruhm Griechenlands« und die »Größe Roms«D hatten sich Jahrtausende zuvor in Luft aufgelöst; sie erlitten das gleiche Schicksal wie Karthago und Tyros, aber im Denken der Menschen waren sie noch lebendig.
Irgendwie muss meine eigene Ausbildung an der Schule und Universität da noch durchgerutscht sein, bevor der Verfall einsetzte. An der Bolton School Iernte ich Latein, fing mit Griechisch an und übernahm meinen Teil an den täglichen Bibellesungen in der Schulaula; meine Geschichts- und Geografielehrer, Bill Brown und Harold Porter, ermunterten ihre Oberstufenschüler dazu, Bücher in fremden Sprachen zu lesen. Während meines Jahres in Frankreich, in Grenoble, saß ich in der Bibliothek und kämpfte mich durch eine ganze Menge Michelet und Lavisse in der Hoffnung, dass irgendetwas hängen bleiben möge. Am Magdalen College wartete ein unvergleichliches Tutoren-Dreigestirn in Gestalt von K. B. McFarlane, A. J. P. Taylor und John Stoye auf mich. In meiner allerersten Tutorenstunde erklärte McFarlane mit einer Stimme, so sanft wie seine Katzen, man solle »nicht alles glauben, was man in Büchern liest«; Taylor sollte mir später empfehlen, die Doktorarbeit zu vergessen und ein richtiges Buch zu schreiben, weil »Doktortitel etwas für zweitklassige Wissenschaftler« seien; seine politischen Ansichten waren seltsam, sein Gehabe gegenüber Schülern onkelhaft, seine Vorlesungen großartig und sein Prosastil köstlich. Stoye, der sich damals mit der Belagerung von Wien beschäftigte, half mir meinen Horizont in