Verschwundene Reiche. Norman Davies

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Verschwundene Reiche - Norman Davies

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      Oder aber:

Thou, too, sail on, O Ship of State! Auch Du ziehe weiter, o Staatenschiff,
Sail on, O Union, strong and great! Du Union, so stark und groß!
Humanity with all its fears Die Menschheit mit all ihrer Furcht, ihrem Leid,
With all the hopes of future years, Mit all ihrem Hoffen auf kommende Zeit,
Is hanging breathless on thy fate!19 Mit Beben hängt an Deinem Los!

      Diese Zeilen des Dichters Henry Wadsworth Longfellow hat Präsident Roosevelt handschriftlich am 20. Januar 1941 an Winston Churchill gesandt. Begleitet waren sie von einer Notiz: »Ich glaube, diese Verse wenden sich an Ihr Volk ebenso wie an uns.«20

      Eben diese Gedanken kommen einem in den Sinn, wenn man sich den Kopf über »kingdoms that have vanished« zerbricht. Denn die »Staatsschiffe« segeln nicht ewig weiter. Manchmal trotzen sie den Stürmen, manchmal gehen sie unter. Gelegentlich retten sie sich in einen Hafen und werden repariert; bei anderen Gelegenheiten werden sie, irreparabel beschädigt, abgewrackt; oder sie sinken, sie gleiten hinab und finden eine verborgene Ruhestätte unter Krebsen und Fischen.

      Das lässt andere Assoziationen hochkommen, solche, bei denen der Historiker zum Strandguträuber und Schatzsucher wird, einem Sammler von Treibgut aller Art, der Wracks hebt, einem Tiefseetaucher, der den Meeresboden absucht, um zu bergen, was verloren war. Dieses Buch fühlt sich wohl in der Kategorie historischer Bergungsversuche. Es sammelt die Spuren gesunkener Staatsschiffe und lädt den Leser ein, freudig mitzuerleben, wie die angeschlagenen Galeonen zumindest auf dem Papier ihre umgestürzten Masten wieder aufrichten, die Anker lichten, die Segel füllen und in der Dünung des Ozeans erneut auf Kurs gehen.

      Norman Davies

       Peterhouse und St Antony’s

       für die deutsche Übersetzung Juni 2013

      1

      Das Tolosanische Reich

      Zwischenhalt der Westgoten

       (418–507 n. Chr.)

      Wegweiser nahe Vouillé

      I

      Vouillé, früher Vouillé-la-Bataille, ist ein kleines Landstädtchen mit etwa dreitausend Seelen im französischen Département Vienne und chef-lieu eines Gemeindeverbandes in der Region Poitou-Charentes. Es liegt an der Route Nationale 149, der alten römischen Straße von Poitiers nach Nantes, und wird von einem hübschen Flüsschen, der Auxance, durchflossen, das zum Atlantik mäandert. Das Dorf kann zwei Kirchen vorweisen, zwei Schulen, einen winzigen Platz, den man durch einen Bogen betritt, einen großen terrain de pétanques, schöne Gärten am Wasser, ein Rathaus, eine Handvoll Restaurants, ein bescheidenes Sportstadion, einen hohen Wasserturm, ein denkmalgeschütztes Chateau-Hotel, Le Périgny, einen Wochenmarkt am Samstag und keinerlei Berühmtheiten. Allerdings fand hier, wie man vermutet, im frühen 6. Jahrhundert eine Schlacht statt. Eine Gedenkplakette, angebracht vom örtlichen Geschichtsverein im Jahr 2007 zum 1500. Jahrestag, ist so gut versteckt, dass nicht jeder in der Touristeninformation am Dorfplatz genau sagen kann, wo man sie findet.1

      In einem dieser köstlichen adjektivischen Schnörkel, die die französische Sprache so schätzt, erfreuen sich die Einwohner von Vouillé des Namens Vouglaisiens oder Vouglaisiennes; die bei Wanderfreunden beliebte Umgebung nennen sie Pays Vouglaisien. Es kann niemanden überraschen, dass sie auf ihren patrimoine, das Erbe ihrer Vorfahren, sehr stolz sind. Eine Aussage des Präsidenten des örtlichen Verkehrsvereins aus dem Jahr 1972 findet man auf der Website wie auch auf einem schlichten Denkmal, das am Carrefour de Clovis errichtet wurde. »L’histoire de la France«, so heißt es dort nicht ganz unbescheiden, »commença donc a Vouillé« (»Die Geschichte Frankreichs begann in Vouillé.«)2

      II

      Am 24. August 410 erreicht der Westgote Alarich endlich das eigentliche Ziel jener vielen Barbarenhäuptlinge, die in das zerfallende Römische Westreich eingefallen waren. Im dritten Anlauf plünderte er Rom:

      Nachdem er die Stadt umzingelt und die Bewohner noch einmal ausgehungert hatte, gelang ihm bei Nacht der Eintritt durch die Porta Salaria … Diesmal war der König nicht in der Stimmung, die Hauptstadt der Welt zu verschonen. Die Plünderungen dauerten zwei oder drei Tage. Den Kirchen wurde ein gewisser Respekt entgegengebracht … [aber] der Palast des Sallust … wurde niedergebrannt; und Grabungen am Aventin, damals ein schickes Adelsviertel, zeigen Spuren der Zerstörung durch Feuer. Man machte reiche Beute und zahllose Gefangene, darunter die Schwester des Kaisers, Galla Placidia.

      Am dritten Tag führte Alarich sein triumphierendes Heer hinaus … und marschierte nach Süden … Sein Ziel war es, nach Afrika überzusetzen, wahrscheinlich, weil er sein Volk in jenem reichen Land ansiedeln wollte … Aber seine Tage waren gezählt. Er starb vor Ende des Jahres in Consentia [Cosenza].3

      Alarichs Name bedeutete »der Herrscher aller«.

      Die Westgoten waren kein Stamm im üblichen Sinn, auch herrschen gewisse Zweifel, ob ihr Name etymologisch überhaupt mit dem »Westen« in Verbindung gebracht werden kann. Unterschiedlicher ethnischer Herkunft

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