Sand im Dekolleté. Micha Krämer
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„Um Gottes willen … wie geht es ihr? Wurde sie verletzt?“, erkundigte er sich besorgt.
Onno blickte zu Lotta, die nach Worten suchte.
„Ja … nee … jetzt nicht wirklich verletzt“, stammelte die Kollegin herum. Onno wusste, dass Lotta im Überbringen schlechter Nachrichten nicht besonders gut war. Sie ging das immer viel zu zaghaft an. Bei solchen Dingen musste man als Polizist sachlich bleiben.
„Was die Kollegin sagen möchte, ist, … ist, dass Frau Kolchowsky verstorben ist“, erlöste er Lotta deshalb.
Reiseleiter Schneider starrte sie beide nun abwechselnd an. Sein Mund öffnete und schloss sich tonlos, als wolle er etwas sagen. Unweigerlich fiel Onno der Besuch in dem chinesischen Restaurant in Hamburg ein, das Tine und er mit Martin und Annemarie im letzten Jahr aufgesucht hatten. Während des durchaus opulenten Mahles hatte ihn die ganze Zeit einer der großen Zierkarpfen in dem Aquarium an der gegenüberliegenden Wand genauso angeguckt. Gerade so, als hätte das Tier den Fisch auf dem Teller, den sie gerade verspeisten, persönlich gekannt. Das war ihm so richtig auf den Magen geschlagen. Ja, er hatt sich in diesem Moment ertappt gefühlt. So als wäre er ein Mörder.
*
Obwohl er demnächst siebzig wurde, waren seine Augen noch immer wie die eines Luchses. Heribert Wolf und er standen gut und gerne einhundert Meter vom Tatort entfernt auf dem Holzbohlenweg. Dennoch hatte Hans Peter Thiel das Dirndl, das die Tote trug, sofort erkannt. Dass Erna Kolchowsky das Zeitliche gesegnet hatte, stand für ihn somit außer Frage. Die Kriminaltechniker und der Traktor mit dem Totenkarren daran sprachen eine deutliche Sprache.
„Tja, das war es dann wohl mit unserem ruhigen Urlaub auf der Insel“, stellte er jetzt erst einmal fest.
„Und du bist wirklich sicher, dass das unsere Erna ist?“, fragte Heribert, deutete mit einer Kopfbewegung zum Ort des Geschehens und hielt ihm das Päckchen mit seinem Tabak und den Zigarettenblättchen hin. Hans Peter überlegte kurz und lehnte dann dankend ab, obwohl es ihn in den letzten Tagen wieder einmal heftig nach einer Zigarette verlangte. Doch er war auch ein Mensch mit Prinzipien. Er hatte aufgehört, weil ihm seine Gesundheit wichtig war. Die letzte Kippe hätte ihn damals nämlich fast ins Grab gebracht – und das wortwörtlich. Zum Glück war er im Krankenhaus aus den Latschen gekippt, wo sofort ein Arzt zur Stelle gewesen war.
„Ja, das ist unsere Erna“, sinnierte er so in Gedanken, dass ihm das Wörtchen „unsere“ erst auffiel, als er es bereits ausgesprochen hatte.
„Um Gottes willen, wie tragisch“, fand Heribert und blies den Rauch seiner Selbstgedrehten in den Wind.
„Sag mal, Heri … wo warst du eigentlich, als wir das Lokal gegen halb eins heute Nacht verlassen haben?“, interessierte es Hans Peter.
Heribert drehte den Kopf und sah ihn einen Moment fragend an.
„Das ist aber jetzt nicht dein Ernst?“
„Doch, wieso? Ich hab’ dich nirgends gesehen, als Inge, ich und einige der anderen zurück zum Hotel gegangen sind“, erwiderte Thiel und tat, als wäre dies eine ganz belanglose Feststellung. Ja, mit dem Rauchen hatte er aufhören können. Aber Bulle … Bulle würde er bleiben, bis sie ihm eines Tages die Kiste zunagelten.
*
„Du, Annemariechen. Dat war gerade der Willi am Telefon. Du weißt doch, der von der Kripo. Der meint, ich müsste dem noch ein paar Fragen wegen der Frau Erna beantworten tun“, erklärte Martin seiner Liebsten, die davon so gar nicht begeistert zu sein schien.
„Und wann machst du die defekte Klospülung im Süderdünenring?“, kam es auch prompt sehr vorwurfsvoll zurück.
„Wenn ich der Polizei Rede und Antwort gestanden hab. Dat is ja quasi eine Bürgerpflicht, dat man da helfen muss“, erwiderte er.
Annemarie blickte ihn über den Rand ihrer Lesebrille an.
„Dann beeil dich. Der Gast hat schon zweimal angerufen und gefragt, wann endlich jemand vorbeikommt“, gab sie klein bei.
Martin nickte, gab Lumpi einen Wink ihm zu folgen und sah dann eiligst zu, dass er davonkam. Eine Hektik war das bisher heute gewesen. Zum Glück wirkten die Tabletten, die Jan Martin ihm vorhin gegeben hatte, endlich. Seine Kopfschmerzen waren wie weggeblasen. Dafür war sein Appetit wiedergekommen.
Keine drei Minuten später stoppte er mit quietschenden Bremsen sein Rad vor dem Fischimbiss in der Barkhausenstraße, der zum Glück nicht nur Fisch im Angebot hatte. Von Kriminalhauptkommissar Willi Bogner war weit und breit noch nichts zu sehen. Nun gut, von der Stelle am Strand, wo Martin morgens die Tote entdeckt hatte, bis hierher war es zu Fuß auch ein gutes Stück zu laufen. Man vertat sich schnell bei den Entfernungen auf der Insel.
„Ich hätte dann gerne eine Currywurst mit Pommes“, bestellte er deshalb schon einmal eine seiner Leibspeisen, die direkt nach der kölschen Version von Himmel und Ääd kam. Wobei … nein … an die gebratene Kölner Blutwurst mit Speckzwiebel, Apfelmus und Püree kam so schnell gar nichts ran. Leider gab es diese Köstlichkeit aber nicht auf der Insel, weshalb er mit Currywurst vorliebnehmen oder sich selbst bekochen musste. Zumindest so lange, bis er das nächste Mal seine Heimatstadt Köln besuchen würde. Überhaupt verhielt es sich ja mit traditionellen Gerichten so, dass die am besten da schmeckten, wo sie auch heimisch waren. Schweinshaxe aß man am besten in Bayern und bestimmt nicht auf Malle, dafür schmeckte die Paella am besten in Spanien. Und eine Pizza, wie die damals im italienischen Paestum, die gab es auch nirgends anders. Currywurst mit Pommes hingegen konnte man überall essen. Genau wie die Burger im Restaurant zum goldenen M. Die schmeckten auch überall gleich nach Pappe.
Gerade als Martin die erste goldgelbe Pommes frites mit der Gabel aufspießte, entdeckte er Willi Bogner, der zielstrebig auf ihn zusteuerte.
„Moin, Willi“, grüßte er den Kriminalen und biss dann genüsslich in die Pommes.
Moin moin, Maddin“, grüßte der Polizist zurück und verzog dann, nach einem Blick auf Martins Teller, angewidert das Gesicht.
„Och nein … Maddin … wer so etwas zum Frühstück isst, der frisst auch kleine Kinder.“
Martin ließ die Gabel sinken und blickte dann auf seine Armbanduhr.
„Wieso, dat is doch schon Mittach. Wat kann ich dafür, dat ihr bei der Polizei so lange schlafen tut?“, gab er kontra, obwohl es tatsächlich bis Mittag noch gut und gerne etwas über eine Stunde war.
Willi erwiderte nichts, sondern orderte derweil ein Matjesbrötchen mit extra viel Matjes und Zwiebeln.
„Und, Maddin, wie geht’s dir denn? Onno und Lotta meinten, dich hätte es heute Morgen ziemlich aus den Schuhen gehauen“, erkundigte er sich nach seinem Wohlbefinden.
Martin winkte ab.
„Nä, Willi. Is alles wieder tuti pallettus … ich hatte ja auch gar keine Schuh an … ich wollte ja baden gehen tun“, erklärte er den Sachverhalt, legte dann die Gabel ab, öffnete die beiden Schnallen seiner Latzhose und zog sein T-Shirt am Halsausschnitt so weit runter, dass die beiden roten Flecken zutage kamen.
„Schon