Elbflucht. Klaus E. Spieldenner
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„Frau Kommissarin, ich sollte noch etwas tun?“, riss der Beamte Sandra wieder aus ihren Gedanken.
„Entschuldigen Sie, ich verstehe einfach nicht, warum niemand Ihrer Kollegen etwas vom Auffinden der beiden Leichen gestern Nachmittag mitbekommen haben will?“
Blankenburg zuckte mit den Schultern und erklärte: „Ich hatte Nachtschicht, Sie haben mich ja sicher bei Ihrer Ankunft in der Schleuse gesehen.“
Sandra versuchte sich zu erinnern, aber es fiel ihr schwer. Irgendwie sahen diese Beamten alle gleich aus. Doch war nicht an der Aussage des Mannes zu zweifeln.
„Sie sind gläubig?“, wollte sie wissen und glaubte damit den Mann aus der Reserve locken zu können.
„Das stimmt, ich bin gläubig.“
„Haben Sie so auch Ihre Verlobte kennengelernt?“
„Ich glaube nicht, dass dies zur Aufklärung der ... der Sache beiträgt, werde es aber dennoch beantworten“, erklärte Blankenburg ohne jegliche Gefühlsregung. „Ich traf Antje vor Monaten bei der Stapelfelder Tafel. Wir haben beide dort mitgeholfen. Es war Zufall und später haben wir uns über Gott unterhalten. Ja, so kam das.“
Sandra wollte nicht weiterbohren. „Können Sie mir denn etwas über die Leichenfunde erzählen?“
„Nein, tut mir leid. Mir wurde erst davon berichtet, als ich um 22 Uhr meinen Dienst angetreten habe.“
„Zu Patrick Monarch und den beiden entflohenen Häftlingen im Jahre 2010 brauche ich Sie ja nicht zu befragen. Da waren Sie ja noch nicht in Santa Fu.“
„Da täuschen Sie sich, Frau Kommissarin. Ich bin in diesem Jahr achtunddreißig Jahre als Strafvollzugsbeamter hier in der Haftanstalt.“
MikVit hatte wenig zur Aufklärung beizutragen. Auf Sandras Frage, über was er sich so intensiv mit den Männern unterhalten hatte, meinte er nur: „Strafvollzug ist ein interessantes Thema!“ Alles in allem war die Vernehmung ein Schuss in den Ofen. Vielleicht würde sie später aus Blankenburg noch etwas herauskitzeln. Nach seiner Offenbarung, schon weit vor 2010 in der Haftanstalt Dienst getan zu haben, wies Sandra den Mann an, am nächsten Tag in ihrem Büro zu erscheinen. Ihrer Erfahrung nach hatten die Befragten dort mehr Respekt und gaben bereitwilliger Auskunft. Sie freute sich auf den morgigen Tag.
Dumm gelaufen
Hamburg, 12. Oktober 2007
Patrick Monarch hatte sich hinter einer Hauswand versteckt. Er hatte Hamburg schon vor zwei Tagen verlassen und sich in ein kleines Hotel in Lübeck einquartiert. Trotzdem war er sich sicher, dass sie ihn bald gefasst haben würden. Der Inhaber des Hotels hatte nicht viel wissen wollen, auch keinen Ausweis verlangt. Aber dennoch würde er bald nach Geld fragen, und davon besaß Monarch nichts. Zweiundsiebzig Stunden, nachdem er den Transporter in Hamburg versenkt hatte, wusste Monarch nicht mehr weiter. Die Zeitungen bundesweit hatten über die Entführung des Geldtransporters geschrieben, und seinen Kollegen Wowering hatte man sogar schon – am Abend in der Nachrichtensendung eines Privatsenders – live zum Überfall befragt. Es schien ihm gutzugehen, und das war für Monarch das Wichtigste. Monarch quälte der Hunger. Er hatte Plakate der ,Lübecker Tafel‘ gesehen, war dorthin spaziert zur Armenspeisung, stets bemüht, Anonymität auszustrahlen. Er lugte aus seinem Versteck, alles schien ruhig. Auf der gegenüberliegenden Seite der Schulstraße sah man eine Schlange von Menschen. Hier war er richtig, und zügig lief er über die wenig befahrene Straße. Monarch zog die Kapuze des Hooties über den Kopf und freute sich, es anderen Wartenden gleichtun zu können. Hier fiel er definitiv nicht auf. Wer würde schon einen Schwerverbrecher bei einer Tafel vermuten? Der Gedanke belustigte ihn. Ein Obdachloser grinste Monarch an. Seine Zahnreihen hatten sich sehr gelichtet und Monarch schämte sich etwas, seine recht guten Beißer durch ein Lächeln zu zeigen. Doch der Typ hatte sich schon wieder umgedreht und quatschte lautstark mit einer alten Frau. Monarch fühlte sich unwohl. In seinem bisherigen Leben hatte er es – trotz eingeschränktem Einkommen – nie nötig gehabt, an einer ,Tafel‘ anzustehen und um Essen zu betteln. Aber einerseits ging es hier absolut anonym zu und andererseits spürte er seit Stunden großen Hunger. Endlich war er an der Reihe.
„Hallo, Sie sind neu hier? Bitte nehmen Sie doch die Kapuze ab!“, wies ihn die alte, aber gepflegte Frau an, die hinter einem Tresen stand und ihn ansprach. Etwas unsicher ließ er die Kapuze nach hinten gleiten und versuchte ein Lächeln, jedoch ohne seine Zahnreihen preiszugeben.
„Sie haben sicher eine Karte von uns?“
Monarch glaubte nicht richtig gehört zu haben. Er wollte erst nachfragen, doch die Frau hatte vor ihm reagiert.
„Dann sind Sie neu hier. Kein Problem. Wir haben für alle etwas. Kommen Sie um den Tresen, dann werde ich Ihnen eine warme Suppe servieren. Wir haben noch Buletten und Saft. Sie sehen abgemagert aus. Das werden wir ändern.“
Eine Stunde später verließ Patrick Monarch die Lübecker Tafel. Er war satt, aber auch etwas geläutert. Warum machten sich Menschen so viel Mühe, anderen zu helfen? Diese menschlichen Züge waren ihm stets fremd gewesen. „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“, war seine Devise. Doch heute hatte er das Gefühl, man habe ihn bekehrt. Mit dieser inneren Unsicherheit war er zum Ufer der Wakenitz spaziert und hatte sich hinter einem Seniorenheim auf den Steg am Wasser gesetzt. Was hatte er im Leben eigentlich richtig gemacht? Seine Ehefrau war von ihm gegangen, und er wurde als Straftäter gesucht. Eine hohe Belohnung hatte man auf sein Ergreifen ausgesetzt und er fühlte sich wie ein Aussätziger in seinem eigenen Land. Wie sollte es bloß weitergehen? Monarch hatte keinen Plan. Aber sollte die Zukunft weniger übel für ihn ablaufen, dann nahm er sich vor, etwas mitfühlender mit seinen Mitmenschen umzugehen. Wie die alte Dame eben. Die Arbeit der ,Tafel‘ hatte ihn doch gerührt. Der Mann wollte aufstehen, als er hinter sich Schritte hörte. Laute Schritte, wie Stiefel auf einem hölzernen Untergrund. Instinktiv und ohne sich umzudrehen, sprang er in das kalte Wasser der Wakenitz.
Keine zehn Minuten später saß Patrick Monarch – vor Kälte zitternd, aber in eine Wolldecke gehüllt – in einem Streifenwagen.
Blankenburg blockt!
Hamburg, 11. September 2019
Blankenburg hatte sein Selbstbewusstsein etwas abgelegt. Das glaubte Kommissarin Sandra Holz zumindest, als der Justizvollzugsbeamte mit gesenktem Blick ihr Büro betrat. In ziviler Kleidung wäre sie nicht darauf gekommen, dass dieser Mann jahrzehntelang im Strafvollzug tätig war. Aber wie oft hatte sie bei der Berufswahl einer Person richtig gelegen? Sehr selten, musste sie sich eingestehen.
„Setzen Sie sich, Herr Blankenburg!“
„Danke!“ Der Mann nahm vor dem Schreibtisch Platz und die Kommissarin eröffnete das Gespräch.
„Danke, dass Sie gekommen sind.“
Der Justizvollzugsbeamte schaute der Kommissarin ins Gesicht und grinste: „Hatte ich eine Wahl?“
Sandra zuckte mit den Schultern. Da war sie wieder, diese selbstbewusste Art bei Männern, die sie nicht mochte.
„Sie