Witterung – Lauf so schnell du kannst. Heike Ulrich
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Kurz – er hatte genug! Und das Beschäftigen mit den Abgründen der menschlichen Seele faszinierte ihn schon lange nicht mehr. Er war inzwischen dünnhäutig und immer weniger belastbar – wie jemand, der ein Lieblingsgericht zu oft genossen und inzwischen beim bloßen Gedanken daran einen Brechreiz bekam.
Plötzlich tauchte ein sportlicher, gut aussehender und sehr höflicher Mann vor seinem geistigen Auge auf – Abraxas Lemm! Dessen zahlreiche Opfer hatte man schrecklich entstellt aufgefunden. Es war sehr schwierig gewesen, ein Täterprofil zu erstellen.
Lemm hatte seine Opfer willkürlich ausgesucht, sie dann aber genau ausspioniert und zu Tode gefoltert. Anschließend hatte er die abgeschnittenen Gliedmaßen neu arrangiert und die Ermordeten grotesk zur Schau gestellt – wie ein Kunstwerk. Ein Kunstwerk des Grauens! Seine Tatorte waren sauber hinterlassen worden, sodass man zum Schluss vermutet hatte, dass es sich um einen Täter aus den Reihen der Kriminalpolizei handeln könnte.
Letztendlich hatte die Täterbeschreibung einer zufälligen Zeugin, die Lemm kurz an einem der Tatorte gesehen hatte, Heribert und seine Kollegen auf dessen Spur gebracht. Er war schockiert gewesen, über den Mann, der ihm und seiner Kollegin später beim Verhör gegenübergesessen hatte – eine Monstrosität mit freundlichem Durchschnittsgesicht.
Doch Lemms heimlicher und verschlagener Blick, mit dem er immer wieder die Kollegin gemustert hatte, war Heribert nicht entgangen. Lemm war tatsächlich in die Falle getappt, als die Kollegin später den Lockvogel gespielt hatte.
Nach Abraxas' Verhaftung war alles schnell gegangen. Dass ausgerechnet an einem seiner letzten Tatorte DNA-Spuren gesichert worden waren, war ein mehr als glücklicher Zufall gewesen. Der DNA-Abgleich war eindeutig gewesen, und Abraxas war beim nächsten Verhör dann auch nicht mehr der höfliche und harmlose Mann gewesen, als der er sich während der ersten Vernehmung noch theaterreif inszeniert hatte. Er war ausfallend geworden, und sein Gesicht war dabei zu einer abgrundtief bösen Fratze mutiert. Bestie! Heribert nickte und atmete geräuschvoll aus. Ja, genau das war er – eine Bestie! Eine Krebsgeschwulst an der Gesellschaft. Doch dieser Bastard saß jetzt, Gott sei Dank, im Knast. Wenn es nach Heribert gegangen wäre, hätten sie Lemm gleich eine Kugel in den Kopf jagen können. Doch vielleicht erledigte das ja noch einer seiner Mitinsassen im Gefängnis.
Heribert rief sich abermals zur Ordnung. Abstand! Noch drei Wochen Reha – er würde sie sich nicht mit solchen Gedanken vermiesen. Ab sofort würde er nur an schöne Dinge denken – Frauen zum Beispiel. Mit fünfundvierzig war er noch alleinstehend – die vermeintliche Unvereinbarkeit mit seinem Beruf! Doch er war entschlossen, neu durchzustarten und sein berufliches Know-how für die weniger nervenaufreibende Arbeit als Privatermittler zu nutzen! Er würde sich seine Fälle sorgfältig herauspicken. Denn was nützten ihm Reputation und Anerkennung, die er sowohl durch die Öffentlichkeit als auch Vorgesetzte erfuhr, wenn er keinen Sinn mehr in seiner Arbeit sah, sie ihn nicht mehr erfüllte, sondern – im Gegenteil – ihn zermürbte? Darüber konnte auch sein sicheres und passables Einkommen nicht hinwegtrösten. Für ihn war Schicht im Schacht. Er hatte bereits seiner Dienststelle das Kündigungsschreiben zugesandt.
Plötzlich dachte er an die kleine Dunkelhaarige von heute Morgen beim Frühstück. Wie herausfordernd sie ihn angelächelt hatte! Heribert wusste, dass Frauen ihn attraktiv fanden. Er war groß, immer noch durchtrainiert, und mit seinen blauen Augen konnte er Frauen in ‚Aufregung‘ versetzen. Schon früh hatte er die Wirkung eines charmanten Lächelns entdeckt. Er reckte sich genüsslich – die kleine Schwarze, heute Abend war sie fällig, heute Abend würde er sie mal ganz genau unter die Lupe nehmen!
Er hielt sein Gesicht in die Frühlingssonne – das Leben konnte schön sein.
Als sein Handy klingelte, ignorierte er es. Was hatte seine Therapeutin noch mal gesagt? Richtig, „Achtsamkeit!“ Ganz genau – Achtsamkeit war der Schlüssel zu seinem neuen Leben.
3
„Juna, beeil dich!“
„Bin gleich fertig, Mama!“ Die Kleine stellte die Zahnbürste in ihr Glas und sauste aus dem Bad. Schnell die Jacke, den Ranzen und los. Ihre Mutter wartete bereits ungeduldig an der Tür.
Michaela Schubert musterte ihre Tochter. Seit der Scheidung von Robert, ihrem Mann, verhielt sich Juna merkwürdig introvertiert. Michaela machte sich Sorgen. Robert nahm es mit den Zeiten, die er mit seiner Tochter verbringen sollte, nicht so genau, und Michaela hatte ihn mehr als einmal um Verbindlichkeit gebeten. Es machte sie wütend, wenn Juna auf ihren Vater wartete, nur um enttäuscht zu werden. Und sie hasste Roberts fadenscheinige Entschuldigungen, die alles noch schlimmer machten. Robert lebte seit zwei Jahren in Ägypten und arbeitete dort als Ingenieur bei einer Baufirma. Sie strich Juna übers Haar.
„Weißt du was, am Wochenende machen wir zwei etwas richtig Schönes – du darfst entscheiden, wie findest du das?“
Das Mädchen strahlte. „Au ja, Mama!“
Unten, vor dem Wagen, wartete bereits Rebecca, Junas neue Schulfreundin. Alles war seit der Scheidung neu. Die Schule, die Wohnung und Michaelas Arbeitsstelle.
Sie startete den Motor und blickte in den Rückspiegel.
„Ihr zwei kommt, wie abgesprochen, nach der Schule zum Frauenhaus. Es sind nur wenige Meter. Ihr kommt nicht herein, sondern wartet gegenüber bei der Bäckerei. Dann fahren wir zusammen nach Hause, okay?“
Die Mädchen nickten, und Michaela sauste los. An ihrem ersten Arbeitstag als Sozialarbeiterin in einer Einrichtung für verfolgte und misshandelte Frauen mochte sie nicht zu spät kommen – heute würde Frank Lindner, der mit ihr bereits vor Wochen das Einstellungsinterview geführt hatte und ihr neuer Chef war, ihr das gesamte Team vorstellen. Sie spürte den Anflug einer plötzlichen Panik, doch sie ging vorbei.
4
Er rappelte sich hoch und sprang von der Krankenhausbahre, stieß die Pflegekraft beiseite, schlug den verdutzten Wachmann nieder und rannte weiter. Er registrierte, dass jemand aufschrie und dass sich der Wachmann wieder aufrappelte, doch Abraxas hatte im Gefängnis trainiert und war gut in Form. Auf jeden Fall besser als der alte Sack, der ihn bewachen sollte. Jetzt musste er nur noch den schmalen, langen Flur entlang, dann war er am Ausgang. Warum zum Teufel musste ihm diese fette Kuh ausgerechnet jetzt den Weg versperren und auch noch dermaßen laut kreischen? Er schubste sie grob zur Seite. Als sie jedoch anfing, um Hilfe zu schreien, drehte er um, packte sie und schlug ihren Kopf mehrmals gegen die Wand. Na bitte, endlich war sie still – das hatte Spaß gemacht! Wie gerne hätte er die fette Sau noch zusammengetreten. Schade, doch dafür war jetzt keine Zeit. Er konnte sich später immer noch irgendwo an irgendwem abreagieren. Der Gedanke hatte etwas Beflügelndes, und ein Gefühl von Freude durchströmte ihn plötzlich, als er den Ausgang passierte.
Er sprintete weiter in Richtung Parkplatz zum ausgemachten Treffpunkt. Wo zum Henker stand der Wagen? Konnte man sich denn auf niemanden mehr verlassen? Sein Kopf ruckte herum – ja, das war schon besser und klang wie Musik in seinen Ohren! Das schwarze BMW-Cabriolet bog gerade mit quietschenden Reifen um die Ecke, und Abraxas hastete los, als die Autotür bereits aufflog. Er stieg ein und stutzte enttäuscht, während der Fahrer das Gaspedal durchtrat. Abraxas wurde in den Sitz gepresst. Einem Automatismus folgend, stemmte er sich gegen die Schwerkraft und zog die Wagentür zu, während er dem Fahrer einen vorwurfsvollen Blick zuwarf.
„Ich dachte, mich holt ’ne Möse ab?“
„Bitte was?“ Der Kopf des Fahrers ruckte herum und blickte Abraxas einen