Witterung – Lauf so schnell du kannst. Heike Ulrich
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Abraxas merkte auf, alles zu seiner Zeit? Er rückte seine Brille zurecht und musterte den Fahrer abschätzend. Machte sich diese Schwuchtel etwa über ihn lustig? Sein Blick fiel auf die gepflegte Hände, und der Gedanke war sofort da – wie schön es sein könnte, ihm die Fingernägel herauszuziehen, einen nach dem anderen, ganz langsam. Er schloss die Augen und gab sich für einen Moment dieser angenehmen Vorstellung hin, während der Polizeifunk gerade die Flucht eines Serienmörders durchgab.
Abraxas verzog das Gesicht, während er sich die Kanüle aus seinem Arm zog. Anschließend presste er Zeige- und Mittelfinger auf seine Armbeuge und warf seinem Fahrer einen auffordernden Blick zu.
Der reagierte prompt. „Im Handschuhfach ist Pflaster.“
Abraxas verarztete sich. Sein Blick fiel auf die Packung Zigaretten, die auf der Ablage lag.
„Scheiße, keine Zigarillos?“
„Gedulde dich, die bekommst du später.“
Abraxas griff nach der Zigarettenschachtel, zündete sich eine an und inhalierte tief.
Sichtlich genervt suchte er einen anderen Sender. Ein alter Vicky-Leandros-Schlager dudelte etwas von einem Theo, der nach Lodz fuhr oder so.
Durch den Rauch musterte Lemm eine ganze Weile den Fahrer. Dieses Abschätzen hatte etwas Gefährliches. Es glich dem Lauern eines Raubtieres. Doch der Mann am Steuer schien diesen Umstand überhaupt nicht zu bemerken. Wusste diese Pfeife überhaupt, wer gerade neben ihm saß? Lemm gab ein verächtliches Geräusch von sich, nahm noch einmal einen tiefen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch in Richtung seines Nachbarn, dann ließ er den Stummel aus dem Spalt der heruntergelassenen Fensterscheibe gleiten.
„Du hast recht, alles zu seiner Zeit, alles zu seiner Zeit!“
Er grinste und spürte sofort dieses angenehme Gefühl, diese heftige Adrenalinausschüttung – so wie sie ein Jäger kurz vor dem entscheidenden Schuss verspürte. Euphorisch summte er den Schlager im Radio mit, den zunehmend genervten Gesichtsausdruck des Fahrers ignorierend. Sollte er sich doch ärgern!
Aus der Ferne hörte man plötzlich Polizeisirenen. Augenblicklich gab der Fahrer Gas und raste in die Dunkelheit einer Unterführung, während Abraxas in seinen Sitz gedrückt wurde und vergeblich versuchte, sich umzudrehen.
5
Sie hielt sich am Waschbecken fest, um nicht umzufallen, und blickte ihr Spiegelbild an. Michaela sah es selbst – sie sah schrecklich aus.
„Nimm dich zusammen“, flüsterte sie, „du ziehst den Job durch!“
Sie kämpfte gegen den plötzlichen Schwindel an und gegen das heftige Gefühl, bewusstlos zu werden. Ausgerechnet in diesem Moment betrat Sigrid Klossek, die Teamleiterin, den Waschraum der Toilette.
Sie warf Michaela einen besorgten Blick zu.
„Ist Ihnen nicht wohl, kann ich irgendetwas für Sie tun, Frau Schubert – wollen Sie vielleicht nach Hause gehen?“ Michaela riss sich zusammen und zwang sich zu einem Lächeln.
„Nein, nein, alles gut. Kleiner Migräneanfall, es geht gleich wieder, habe schon eine Tablette eingenommen.“
Sigrid nickte. „Oje, Sie Arme, das kenne ich.“ Damit suchte sie die Toilettenkabine auf.
Michaela betupfte sich schnell das Gesicht mit kaltem Wasser und ließ den Wasserstrahl über ihre Handgelenke laufen.
Immer noch raste ihr Puls.
Sigrid kam von der Toilette zurück, trat zum Waschbecken und wusch sich die Hände, während sie Michaela über den Spiegel mitfühlend anlächelte.
„Also, dann bis gleich.“
Michaela nickte und erwiderte das Lächeln. „Ja, bis gleich.“
Sigrid verließ den Raum, und Michaela betrat hastig eine der Toilettenkabinen und verschloss sie – dann sackte sie zusammen und bekam einen Heulkrampf. Ihr ganzer Körper schüttelte sich. Sorgfältig verschlossene Erinnerungen – Flashbacks – jagten plötzlich wieder und wieder durch ihren Geist und quälten sie. Sie versuchte, es zu kontrollieren, doch es gelang ihr nicht. Dann bekam sie Schüttelfrost. Die Luft schien verbraucht, und sie atmete heftig, während ihre Hände zu kribbeln begannen. Dann musste sie sich übergeben. Nach einer scheinbar endlosen Zeit wurde ihr Atem ruhiger, und die Panik legte sich allmählich. Sie überlegte fieberhaft – was konnte sie tun? Aufgeben? Das kam nicht infrage! Sie überlegte weiter. Niemand außer Sigrid Klossek hatte ihren Zustand bemerkt. Weder ahnte sie den wahren Grund noch wussten die anderen etwas. Was also diese Sorge betraf –, war alles bestens.
Dann fiel ihr etwas ein. Sie zog ihr Handy aus der Handtasche. Nach einem Moment des Zögerns tippte sie eine Nummer ein, und als sich eine Stimme meldete, löste sich alles. Nicht ein einziges Mal wurde sie unterbrochen – dann hörte sie eine lange Weile nur zu, während sie sich allmählich beruhigte. Zum Schluss bedankte sie sich und drückte die Aus-Taste. Das hatte gutgetan, sie fühlte sich leichter und gestärkt. Noch einen Moment, dann würde sie nach draußen gehen und sich weiter um die traumatisierten Frauen und deren Kinder kümmern. Sie würde ihr altbewährtes Pokerface aufsetzen, doch dabei sehr wachsam sein. Es gab eine Lösung. Diesmal war sie im Vorteil. Gleich war Mittag, dann war sowieso für heute Dienstschluss – Juna und Rebecca würden draußen warten. Sie putzte sich die Nase, legte neues Make-up auf und atmete tief durch, dann verließ sie den Toilettenraum.
6
Eine heruntergekommene Villa, die aus der Welt gefallen zu sein schien und mit Efeu überwuchert war, kam in Sicht.
„Na endlich“, Abraxas' Laune war auf dem Tiefpunkt, „kannst du mir mal sagen, warum wir uns nicht versteckt haben – warum sind wir nicht nachts weitergefahren?“
Der Fahrer antwortete nicht.
„He? Ich meine nur, anstatt das Risiko einzugehen, von den Bullen erwischt zu werden!“
„Was beschwerst du dich, ist doch alles gut gegangen, oder?“
Abraxas' Kopf ruckte herum.
„Was ich mich beschwere? Was ich mich beschwere?! Ist das dein Ernst? Wir sind dem Bullenauto nur ganz knapp entkommen – das beschwere ich mich! Anfänger!“
Abraxas griff nach der Zigarettenpackung und zündete sich eine an. Ein schmiedeeisernes Tor öffnete sich und schloss sich sofort wieder, nachdem der Wagen die Einfahrt passiert hatte und nun den schmalen Kiesweg entlangfuhr. Der Fahrer verlangsamte das Tempo und hielt schließlich an. Abraxas schaute ihn fragend an, als er ein leises Summen vernahm. Das Vibrieren kam vom unteren Teil des Wagens. Die seitlichen Büsche und das Haus, alles glitt plötzlich nach oben weg, während sie offensichtlich mit einer Art Aufzug nach unten fuhren. Etwas später vernahm Abraxas das Summen eines Mechanismus, und etwas rastete ein.
Der Fahrer startete den Wagen erneut und fuhr von der Plattform herunter.
Abraxas blickte sich um. Sie befanden sich in einer Art unterirdischer Halle. Er beobachtete, wie die Plattform langsam nach oben schwebte und die Deckenöffnung wieder verschloss. Weiter ging die Fahrt – einen schmalen Tunnel entlang, der in einem großen Raum, einer Art Kellergewölbe, endete. Neben einem