Kraniche über Otterndorf. Hedi Hummel
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Er atmete erleichtert auf, schloss die Augen und sog tief die raue Nordseeluft ein. Kühl, frisch, würzig, nirgends sonst auf der Welt roch es genau so. Nach ein paar Atemzügen entspannte er sich und musste lächeln. Langsam ging er zum Strand hinunter. Ein gutes Gefühl, keinen Asphalt mehr unter den Füßen zu spüren. Sand kam in seine Schuhe. Er setzte sich auf den Boden, zog sie aus, stopfte die Strümpfe hinein und verknotete die Schnürsenkel so, dass er die Schuhe bequem tragen konnte. Dann hatte er doch keine Lust weiterzugehen. Er blieb einfach sitzen. Und schaute auf die Nordsee.
Die Flut kam zurück, die leise rollenden Wellen bereiteten den Weg für die heftigeren Wogen. Das Rauschen des Wassers vermischte sich mit dem des Windes. Kleine Schaumkronen bildeten sich und wurden von immer neuen Wogen überrannt … Die Sicht war gut, Hartmut konnte den Leuchtturm der Insel Neuwerk sehen, und abendliche Vogelschwärme zogen am Himmel ihre Bahn. Und schon war es vorbei mit seiner Entspannung. Der Kranich!
Eigentlich hatte er am Strand ein bisschen Erholung gesucht, wollte sich für ein paar Minuten ablenken. Länger hatte es aber auch wirklich nicht gedauert, bis er schon wieder bei seinem Kriminalfall gelandet war. Noch weigerte er sich, vollends einzusteigen, und ließ seine Gedanken schweifen, sie folgten den Wellen, den Wolken, dem Flügelschlag in den Lüften. Doch es schoben sich immer wieder unschöne Bilder des Ermordeten dazwischen, und er geriet in diesen besonderen Bewusstseinszustand, den er vor Kurzem zum ersten Mal an sich erfahren hatte. Halbwach fühlte er sich dabei, mit leicht getrübter Wahrnehmung, dennoch war er fähig zu denken, körperliche Bewegung fiel ihm allerdings schwer. Eindrücke kamen und gingen, manchmal tauchten auch Worte dazu auf. Und dann dichtete er, aber auf eine ganz besondere Weise. Er reihte nicht einfach lyrische Worte und Empfindungen aneinander, nein – es vermischten sich zwei Welten in ihm, er nahm die Natur ringsum in sich auf, ließ aber auch die Überlegungen zu seinem gegenwärtigen Mordfall gleichberechtigt danebenstehen. Er bevorzugte momentan das 17-silbige japanische Haiku, und er fand, dass es gut zu gefalteten Vögeln passte. Innerlich jonglierte er mit Ausdrücken und Eingebungen, verkürzte hier, schob da ein Wort dazu.
Kreisen in der Luft.
Ein Schrei, Blut und Federn,
Origami-Kranich.
Es war ein erster Versuch, und dabei interpretierte er die Form des Gedichtes großzügig, hielt sich lediglich an die 17 Silben, nicht an die Formation 5–7–5. Er holte sein Diktiergerät aus der Jackentasche und sprach den Text hinein.
Die Kraniche fliegen gen Süden
Nur einer
Bleibt einsam zurück.
Obwohl dieses Haiku auf den ersten Blick kaum etwas mit seinem Fall zu tun hatte, spürte er intuitiv, dass ihm doch eine Bedeutung zukam, nur wusste er zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht welche.
Er befühlte den Sand neben sich, ließ die feinen Körner durch die Finger rieseln, schloss die Augen: Sand, Salz, strömendes Meerwasser, die Bilder wechselten, ein Kranich, der davonflog, Blut tropfte aus seinem Mund, die Kirchturmuhr schlug, ein grausiges Surren. Wieder strich seine Hand über den Boden, griff zu und presste den Sand jetzt fest zusammen, ein schneidender Schmerz, er hatte eine Muschel zerquetscht, die tief ins Fleisch schnitt. Blut zu Blut. Immer noch war er nicht ganz aus seiner Versunkenheit erwacht … und wie von Ferne hörte er sich murmeln …
Krarr … krruh … krarr … krruh
Stirb du, stirb du,
ich wache,
und mein ist die Rache.
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