Kraniche über Otterndorf. Hedi Hummel

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Kraniche über Otterndorf - Hedi Hummel

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musste lächeln, „er hatte schon einiges intus.“

      „Ist dieser Holger ein häufiger Gast von Ihnen? Kennen Sie ihn näher?“, hakte Hartmut nach.

      „Aber klar. Holger Kling, er hat … hatte mein Alter, 54, wir haben zusammen die Schulbank gedrückt und kennen uns ganz gut, waren zwar nicht befreundet, aber in letzter Zeit war er häufig im ‚Goldenen Anker‘!“

      „War Herr Kling immer alleine hier, oder kam er auch mal mit Freunden oder einer Freundin?“

      „Er war immer allein“, kam es wie aus der Pistole geschossen, „ich glaube, er war recht einsam nach seiner Scheidung, das dürfte so zwei Jahre her sein, seitdem kam er eigentlich ziemlich regelmäßig, meistens mittwochs und samstags.“

      „Hatte das einen bestimmten Grund?“

      „Nein, er wollte einfach in Ruhe sein Bier trinken, so zwei bis drei am Abend. Und manchmal haben wir eben ein bisschen gequatscht. Über dies und das, selten was Persönliches.“

      „Hatte Herr Kling denn Kinder? Und machte er in letzter Zeit einen anderen Eindruck als sonst, besonders heute Abend?“

      „Also von Kindern weiß ich nichts, das Thema Ehefrau war tabu, insofern kam auch kein Nachwuchs zur Sprache. Ansonsten kaum Stimmungsschwankungen, meistens war er ganz umgänglich, manchmal ein bisschen melancholisch.“

      „Was hat er denn gearbeitet?“, meldete sich Dressler wieder zu Wort.

      „Früher war er Beamter, aber dann erbte er viel Land bei Kehdingbruch, und das ließ er sich … na ja … das ließ er sich vergolden.“

      „Wie darf ich das verstehen?“

      „Ich hab keine Ahnung, was einem Grundeigentümer so eine Windkraftanlage bringt mit einem oder wer weiß wie vielen Windrädern. Man munkelte, bis zu 100.000 Euro pro Anlage und Jahr. Wenn man Verhandlungsgeschick hat und die Stromertragsbeteiligung über die 10 Prozent nach oben treibt, dann ist man bald ein gemachter Mann.“

      „Und“, wollte Jochen Dressler wissen, „war er ein gemachter Mann?“

      „Allerdings! Obwohl da unten ja schon eine große Windkraftanlage existiert, ließ er auf seinem Acker- und Weideland noch mal neun Windräder errichten.“

      Dressler überschlug die Summe der Einnahmen und nickte anerkennend: „Nicht schlecht, aber dann steht ja dort ein Windrad am anderen?“

      Der Kneipenwirt zuckte mit den Achseln: „Ich glaube, das war ihm egal. Aber irgendwie hat es ihm kein Glück gebracht. Denn in dieser Zeit ging seine Ehe in die Brüche.“

      „Steht das vielleicht im Zusammenhang miteinander?“, schaltete sich Kommissar Frank ein.

      „Da bin ich überfragt“, musste der Wirt zugeben.

      „Okay, darüber reden wir dann mit seiner Ex-Frau. Und hier im Lokal – hat er sich da vielleicht mit jemandem angefreundet oder öfter mal unterhalten?“

      „Das lässt sich doch gar nicht vermeiden. Wenn man den ganzen Abend an der Bar sitzt, mit Pieter hat er mal geredet und mit Claussen glaub ich auch, die waren aber beide heute nicht hier.“

      Hartmut und Dressler befragten die vier Gäste, die noch im Lokal waren, aber das brachte rein gar nichts. Dressler wurde von einem Kollegen nach draußen geholt, und auch Kommissar Frank verließ die Gastwirtschaft. Er blieb für einen Augenblick alleine in der Marktstraße stehen, trat dann einige Schritte vom Tatort zurück und ließ alles noch einmal auf sich wirken.

      Er stellte sich die Straße vor, wie sie wohl üblicherweise gegen Mitternacht aussah, und konzentrierte sich mit geschlossenen Augen darauf. Dann öffnete er die Augen abrupt, um alle Veränderungen in sich aufzunehmen. Wie bei diesen Bilderrätseln in Zeitschriften ‚Original und Fälschung‘, wo es nur winzige Details gab, die im zweiten Bild anders waren, musterte er minutiös jeden Straßenabschnitt.

      Natürlich war da jetzt mittlerweile mit Kreide die Stelle markiert, wo der Tote gelegen hatte. Das Lokal „Goldener Anker“ war nach wie vor erleuchtet, an den umliegenden Häusern fiel ihm nichts Außergewöhnliches auf. Er sah hinüber zur Absperrung, forschte im Gesicht eines jeden Schaulustigen, die sich immer noch nicht hatten vertreiben lassen, nach einer Gefühlsregung, die sich von purer Sensationsgier unterschied, verfolgte den Einsatz seiner Kollegen von der Spurensicherung. Da fiel ihm ein kantig zusammengeknülltes Stück Papier auf dem Trottoir ins Auge. Wenn er den Tatort quasi wie ein Gemälde betrachtete, so kam ihm das Papierknäuel wie die Signatur des Malers am rechten unteren Bildrand vor. Während er hinüberging, streifte er sich seine Handschuhe über und wollte das Fundstück in eine Plastiktüte stecken. Da meinte er das Geräusch von Vogelschwingen in der Luft zu hören. Das konnte doch gar nicht sein, es musste sich um eine Sinnestäuschung handeln. Er hob den Blick und schaute hinüber zum Kranichhaus genau ins Auge des Wächters auf dem Dach, das ihn abschätzig, fast drohend musterte. Du hast alles gesehen, dachte Hartmut, da wurde ihm schwindlig, und er musste sich übergeben.

      *

      Der Schatten des Flügels zog Kreise über der Lichtung des kleinen Waldstücks, in dem Rob Zuflucht suchte. Überdimensional bewegte er sich am Firmament, und selbst wenn Rob seine Augen schloss, nahm er in gleichmäßigen Abständen dunkle Balken wahr. Sssst … ssst … ssst … ssst … ssst … dieses Geräusch drang tief in sein Bewusstsein und trat nur für kurze Zeit in den Hintergrund, wenn er völlig in seine Gedanken versunken war. Er lag im Gras und sah nach oben, und kein Vogel schwirrte da über ihn hin. Sondern die riesigen Arme des Windrads. Ssst … ssst … ssst … ssst … ssst … ssst ... hell – dunkel – hell – dunkel – Sonne – Rauschen – Surren.

      Doch wie oft trugen ihn seine Gedanken mit sich fort, drehten sich in den Himmel hinein und breiteten sich dort aus, wurden zu einem Körper, zu echten Flügeln, zu staksigen Beinen, einem Schnabel und erhoben sich als Kraniche in die Luft … und folgten dort den Linien, den heiligen Linien, die über das ganze Land verteilt waren, es in gute und gefährliche Bezirke aufteilten. Die Linien, über die sein Vater ein Buch geschrieben hatte, das Rob wie seinen Augapfel hütete und aus dem er ihm und den anderen Kindern an guten Tagen vorgelesen hatte. Bruchstücke davon würde er stets in seinem Innern bewahren, wo er auch sein würde, was immer auch geschah … und es würde etwas geschehen, er spürte es in seinem Blut, in seinem Herzen, und er hatte Angst vor dieser Ahnung, Angst vor dem Kommenden, Angst vor sich selbst.

      Ssst … ssst … ssst … von oben, ein Surren und Trompeten von vorn, da kamen sie … Flügel an Flügel … krarr … krruh … krarr … krruh … wie in Wellen wurden die Rufe zu ihm herübergetragen … ein Schwarm von Kranichen am Horizont … ein wundervoller Anblick … Rob blinzelte in die Sonne, beschattete seine Augen mit der einen Hand – es war ein gewaltiges Schauspiel … um Robs Mundwinkel trat ein milder, weicher Ausdruck. Vergessen waren alle Befürchtungen, denn wenn Kraniche in seiner Nähe waren, so fühlte er sich leicht und beschwingt und in Sicherheit. Er lag im Gras und lächelte.

      Da hörte er ein dumpfes Geräusch und gleich darauf ein schrilles Krächzen. Er sah nach oben, musste mit der Hand die Sonne abschirmen, bevor er etwas erkennen konnte. War da nicht ein Vogel in der Luft, ganz oben in der Nähe des Windrades? Oder hatte er sich getäuscht? Da, was war das – er sah etwas Dunkles vom Himmel fallen. Vielleicht einer der Kraniche, die eben vorbeigezogen waren?

      Rob sprang auf. Nie kam er der Windkraftanlage näher als bis zu dieser Waldlichtung. Nun überwand er seinen Widerwillen und stapfte durch das hohe Gras, zwängte sich durch einige

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