Kraniche über Otterndorf. Hedi Hummel
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Er war verletzt. Robs Herz krampfte sich zusammen. Es schien noch ein junges Tier zu sein und gab klägliche Laute von sich. Besänftigend sprach Rob auf den verängstigten Vogel ein und untersuchte ihn dabei behutsam. Am Kniegelenk stimmte etwas nicht. Er war sich nicht sicher, wie es zu der Verletzung gekommen war. Ob der Kranich die weißen Rotorblätter des Windrades als Wolkenschleier wahrgenommen oder ihre Geschwindigkeit falsch eingeschätzt hatte? Der Vogel zuckte zusammen, als Rob den rechten Flügel berührte, gebrochen schien da aber nichts zu sein. Beim Kniegelenk war er sich nicht so sicher. Der Kranich wich vor ihm zurück, hielt aber dann einen Augenblick still, als spüre er, dass Rob es gut mit ihm meinte.
Immer diese verfluchten Windräder! Rob hasste diese Dinger, nicht nur, dass sie die Landschaft verschandelten, sie waren auch eine große Gefahr für Vögel.
Rob zog dem Kranich seine Jacke über den Kopf, worauf er sich sofort beruhigte, brachte ihn mit dem Motorrad zu seinem Hof und bereitete ihm einen Platz in seinem Gewächshaus. Hier untersuchte er ihn genauer, reinigte die Wunde und schiente mit einem Stöckchen sein Bein. Das war kein leichtes Unterfangen, denn der Vogel schlug ängstlich mit den Flügeln, war aber schon sehr entkräftet. Rob vermutete, dass er auch schon länger nichts zu fressen bekommen hatte, und er sah sich in seiner Küche um, ob er etwas hatte, was den ersten Hunger stillen könnte. Er weichte ein paar Haferflocken in Wasser ein. Heidelbeeren waren auch noch da. Mit einem Holzstäbchen versuchte er ihn zu füttern und hielt ihm dazwischen die Heidelbeeren hin. Rob stieß dabei leicht trillernde Laute aus, wie er es früher oft getan hatte, wenn er mit dem Vater oder auch alleine die Kraniche beobachtete. Dabei sah er dem jungen Tier in seine schönen, noch dunklen Augen, und der Vogel schaute zurück, als verstehe er alles, was Rob dachte und sagte. Und nach einer Weile erwiderte er zaghaft das Trillern. Und Rob strahlte übers ganze Gesicht, als der Kranich zu fressen begann.
*
Kommissar Frank erschien am nächsten Morgen zu der außerordentlichen sonntäglichen Zusammenkunft im Präsidium mit leichter Verspätung.
Alle Augen ruhten auf dem Chef, prüfend oder amüsiert.
„Na, geht’s wieder?“, Amelung klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
Heidi Lührens kam mit einem Tablett voller Tassen mit frisch gekochtem Kaffee ins Zimmer. „Hartmut“, rief sie erfreut, denn sie hatte sich wirklich Sorgen gemacht, „was war denn los mit dir?“
„Hm“, man sah ihm an, dass ihm sein Schwächeanfall in der Nacht sehr unangenehm war, „ich weiß es auch nicht … wahrscheinlich der Alkohol, ich trinke sonst kaum was.“
„Na, wie dem auch sei“, sagte Heidi, „jetzt gibt’s erst mal Kaffee.“
„Ja, ja“, er versuchte die Erinnerung abzuschütteln, „lasst uns anfangen.“
Betretenes Schweigen. Irritiert schaute Hartmut in die Runde: „Was ist los?“
„Wir warten noch auf jemanden“, erklärte ihm Kollege Dressler, „wir haben es auch erst erfahren, es kommt noch jemand dazu. Sie sollte eigentlich erst am Montag hier sein, aber in Anbetracht der aktuellen Situation wurde sie wohl von unserem heutigen Treffen informiert“, erklärte Amelung.
Hartmut, der gerade einen Schluck Kaffee trinken wollte, setzte die Tasse wieder ab und stellte sie auf den Tisch: „Wie, es kommt noch jemand? Wer denn? Eine Frau? Und wieso wird sie über ein internes Treffen am Sonntag informiert, von wem denn?“
„Von mir“, sagte schuldbewusst Libuše, „es ist eine Bekannte von mir, die ich auf einem Lehrgang kennengelernt habe, und ich hatte ihr damals geraten, sich doch einmal bei uns zu bewerben. Sie ist Fallanalytikerin, besser gesagt eine Profilerin.“
„Wie bitte“, ereiferte sich Hartmut, „sind wir denn in einem Fernseh-Krimi? Seit wann brauchen wir einen Profiler?“
„Eine Profilerin“, die Betonung lag auf der letzten Silbe. Mit einem undefinierbaren Lächeln war Lisa Lehmann ins Zimmer getreten und betrachtete amüsiert Kommissar Frank, ging ein paar Schritte auf ihn zu und reichte ihm die Hand: „Ich glaube, wir wurden einander schon vorgestellt! Bleibt es beim Du?“
Hartmut sah sie mit offenem Mund an. Die mysteriöse Dame von der Party letzte Nacht, mit der er ganz unverschämt geflirtet hatte, weil er eigentlich angenommen hatte, sie nie wiederzusehen.
Libuše glaubte, die Situation etwas auflockern zu müssen: „Wahrscheinlich habt ihr Liz alle schon gestern bei mir kennengelernt oder sie zumindest einmal kurz gesehen.“
„Na, so jemanden kann man ja gar nicht übersehen“, murmelte Dressler, der eine Schwäche für schöne Frauen hatte.
Die Begrüßungsrunde begann, und schnell einigte man sich auch darauf, es bei allen beim ‚Du‘ zu belassen, da sich einige schon am Tag zuvor miteinander unterhalten hatten. Dennoch war das ein unübliches Vorgehen, und es hakte auch bei den meisten mit der Anrede. Und plötzlich war eine gewisse Zurückhaltung zwischen dem eingespielten Team und der Fremden zu spüren, von der man nicht wusste, ob sie sich eingliedern würde oder sich für das Allein-Seligmachende hielt.
*
Der Kranich, der sich als junges Weibchen entpuppte, hatte mittlerweile schon beachtliche Fortschritte gemacht. Am Anfang taumelte er immer wieder, wenn er versuchte, sich fortzubewegen. Da stellte Rob sich direkt vor ihn hin und breitete seine Arme aus. So weit, dass er Cara, wie er den Kranich nun nannte, am liebsten umarmt hätte, stattdessen wedelte er mit den Armen auf und ab und ahmte den Flügelschlag nach. Längst zutraulicher geworden, beobachtete Cara genau, was hier passierte, und versuchte dann vorsichtig, die Flügel zu benutzen.
Täglich übte Rob mit ihr. Und es war für ihn die schönste Zeit am Tag, auf die er sich immer besonders freute. Wenn Cara wieder etwas dazugelernt hatte, war Rob ganz stolz auf sie. Cara durfte bereits eigenmächtig ihren Verschlag verlassen, und wenn Rob in den Hof kam, wurde er freudig von dem Vogel begrüßt. Und wenn er die Arme hob, begann auch Cara mit den Flügeln zu schlagen. Die Wunde am Knie unterhalb der Schwingen im Gefieder war gut verheilt. Doch um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, musste Cara immer noch die Flügel bewegen. Sie konnte noch nicht richtig laufen und brachte lediglich ein lustiges Hopsen zustande. Rob hatte schon seit Jahren nicht mehr so viel gelacht.
„Cara, süße Cara. Sieh mal, was würdest du denn von mir denken, wenn ich so herumliefe“, dabei hüpfte Rob durch den Hof und stellte sich dabei extra ungeschickt an.
Der Kranich legte den Kopf ein bisschen schief, und Rob hatte das Gefühl, als würde er schmunzeln. Und dann versuchte Cara wieder ein kleines Stück zu fliegen.
„Das war schon viel besser als gestern“, lobte Rob, „du willst doch keine Außenseiterin werden, wenn du erst zu deinen gefiederten Gefährten zurückkehrst.“
Als er hörte, was er da gesagt hatte, musste Rob schlucken, und er wurde traurig. Cara sah ihn forschend an und stupste ihn mit ihrem Schnabel.
„Du verstehst mich so gut“, er streckte seine Hand