Kraniche über Otterndorf. Hedi Hummel
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Cara reckte ihren langen Hals nach vorne, betrachtete ihn genau und spielte dann mit. Als sie plötzlich ein Maiskorn fand, das Rob vorher dort versteckt hatte, schien sie zu begreifen, dass das ein sehr nützliches Spiel war.
Und endlich kam der Tag, als Cara ihm entgegenflog, als er einmal mit dem Motorrad in den Hof einfuhr. Rob war so froh, und es gab nichts auf der Welt, was er sich mehr wünschte, als dass Cara wieder ganz gesund werden würde. Von nun an begleitete der Kranich Rob bei seinen Fahrten. Er flog dann neben ihm her oder einfach ein Stück voraus. Und Rob drosselte die Geschwindigkeit oder neckte den Vogel, indem er ihm davonsauste. Und man konnte wahrlich von gemeinsamen Ausflügen sprechen, und wenn es das gab, auch von gemeinsamem Glück. Doch Rob wusste: Nun war der Tag nicht mehr fern, an dem er Abschied nehmen musste und Cara zu den anderen Kranichen zurückkehren würde.
*
„Okay“, sagte Hartmut Frank, „tragen wir doch erst einmal zusammen, was wir schon haben.“
Heute holte er nicht seine gefürchtete Schiefertafel und ein Stück Kreide hervor, denn auch bei Kommissar Frank hatte die Computertechnik Einzug gehalten und er hantierte am PC. Und alsbald erschienen an der kalkweißen Wand der Name und ein Foto des Opfers Holger Kling, und Hartmut kommentierte: „54 Jahre alt, lebt von seinem ererbten Grundbesitz, den er an Windparkbetreiber verpachtete, seit zwei Jahren geschieden. Die Ehefrau lebt drüben in Brunsbüttel und ist offenbar neu liiert. Kling galt als unauffälliger, regelmäßiger Besucher des Lokals ‚Goldener Anker‘, ein früherer Schulkamerad des Wirtes dort.“
„Jochen“, er wandte sich Dressler zu, „sprichst du mit seiner Frau? Es dürfte interessant sein, ob sie die Verpachtung der Gebiete guthieß. Dann könnte sich Helmut mal in der Umgebung seines Hofes umhören, was Kling so für ein Zeitgenosse war.“
Beide Kollegen nickten.
„Nun zu Ihnen, besser gesagt zu dir, Liz“, fast hätte er gestottert, „wir haben ja nun wenig konkrete Anhaltspunkte. Unser Mörder hat weder Fingerabdrücke noch Fußspuren hinterlassen. Die Spurensicherung vermutet sogar eher Tod durch einen Raubvogel. Ich weiß ja nun nicht …“
Amelung beendete den Satz für ihn: „… ob hier überhaupt ein echtes Betätigungsfeld für eine Profilerin sein wird. Oder wird jetzt überlegt, ob der Vogel psychisch gestört war?“
„Jetzt schießt du aber scharf“, verschaffte sich Heidi Gehör, „ihr wisst doch noch gar nichts, vielleicht ist es ja doch ein normaler Mörder. Nun gebt der neuen Kollegin doch mal eine Chance!“
„Danke, Heidi. Das ist total nett von dir!“ Im Gegensatz zu ihren Cuxhavener Kollegen hatte Liz keine Schwierigkeiten mit dem ‚Du‘, „aber ich komme schon klar. Und zudem … glaube ich nicht so recht an diese Raubtier-
Theorie. Tiere töten eher, um sich oder ihre Brut zu verteidigen oder weil sie Hunger haben. Die Tat war ausgesprochen grausam, das würde keinen Sinn machen. Gehen wir jetzt aber von einem menschlichen Täter aus, bekommt der Mord schon ein ganz anderes Gesicht. Dieser Mörder wollte nicht einfach nur töten, er wollte bestrafen, er wollte vernichten, auslöschen. Wut steckt dahinter, ein konkreter Anlass. Rache vielleicht, bestimmt sogar“, überlegte sie.
Sie ging zum Tisch, auf dem die Fotos vom Tatort lagen, betrachtete sie noch einmal der Reihe nach. „Es war ein regelrechtes Gemetzel. Und warum wurde er gerade auf diese Art umgebracht? Genau wie draußen in der rauen Natur ein Opfer von einem stärkeren Gegner gerissen wird.“
„Ich würde nicht sagen, genau wie in der rauen Natur, sondern tatsächlich in der Natur, es war ein Raubvogel“, sagte Amelung.
Liz zuckte mit den Achseln: „Da müssen wir den medizinischen Bericht abwarten. Wenn es ein Tier war, dann ein scharf abgerichtetes … und da stünde ja dann auch wieder ein Mensch dahinter.“
„Und was ist mit dem klitzekleinen Detail, dass keine Fußspuren in der Blutlache zu sehen waren?“, fragte Dressler.
Keiner sagte mehr etwas, jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen.
„Am besten nehme ich mir die Unterlagen einmal mit“, schlug Liz vor. „Ich habe im Best Western am Hafen gebucht. Vorerst kann ich von dort aus arbeiten, bis ich hier vielleicht ein Zimmer oder zumindest einen Schreibtisch bekomme“, dabei schaute sie Hartmut Frank fragend an.
„Das lässt sich sicher machen“, er lächelte sie nun doch an, „wir wurden ja mehr oder weniger vor vollendete Tatsachen gestellt … “ Das konnte ja heiter werden, Hartmut war noch nicht einmal Zeit geblieben, sich darüber klar zu werden, was er denn nun davon hielt, seine Party-Bekanntschaft so schnell wiederzusehen. Und nun würde er sie täglich treffen, auf engstem Raum mit ihr arbeiten, es machte ihn nervös, aber – er begann sich insgeheim auch ein bisschen darauf zu freuen.
Liz war eine selbstbewusste, geradlinige Frau, nicht ohne Ehrgeiz, der sie aber noch nie in ihrem Urteilsvermögen beeinträchtigt hatte. Sie hatte lange Zeit in Berlin gelebt, doch sie musste weg aus der Stadt, und das hatte einen triftigen Grund ... einen Grund, der niemanden etwas anging.
Sie hatte sich auf gut Glück erkundigt, ob in den Nordregionen eine Fallanalytikerin gebraucht wurde, und man hatte ihr zugesagt, dass sie in Cuxhaven beim nächsten größeren Fall dabei sein würde. Dass es so schnell gehen würde, hatte sie jetzt wirklich nicht gedacht. Es konnte doch kein Zufall sein, dass sie nun ausgerechnet hier diesen Mann wiedertraf, der sie gestern Abend tatsächlich beeindruckt hatte mit seiner poetischen Schlagfertigkeit und, wenn sie ehrlich war, nicht nur damit. Sie erwiderte sein Lächeln und dachte dabei, mein kleiner „Bard of Avon“, dieser Spitzname Shakespeares klang in ihrer Vorstellung fast wie ein Kosewort.
„Wo ist das zerknitterte Papier?“, wie vom Donner gerührt war Hartmut aufgesprungen, das hatte er völlig vergessen, „ich hab es gestern nicht mehr gepackt, es einzutüten.“
Alle schauten ihn verständnislos an.
„Das gibt es doch nicht“, Hartmut konnte es nicht fassen, „es war ein zusammengeknülltes, gelbes Stück Papier. Ich weiß, dass es wichtig ist.“
„Wir haben die Sachen des Toten sichergestellt, es waren ihm ein paar Dinge aus der Jacke gefallen. Aber ein Papierknäuel war nicht dabei“, erklärte Jochen Dressler.
„Das ist doch nicht euer Ernst! Es muss ganz in der Nähe von dem Ort gelegen haben, an dem ich … nun sagen wir mal, ein bisschen in die Knie gegangen bin. Wie oft haben wir schon Tatort-Begehungen gemacht, wir dürfen einfach nicht nur den kleinsten Radius nehmen. Da muss alles, wirklich alles inspiziert werden“, sagte der Kommissar verärgert und griff sich seine Jacke, „ich fahre sofort wieder nach Otterndorf.“
„Jetzt mach mal halblang“, sagte Amelung, „vielleicht hat es auch der Wind weggeweht. Und du hattest es ja wohl auch wieder vergessen.“
„Warte“, sagte Libuše zu ihrem Chef, „ich komme mit. Wir sind doch hier ohnehin fertig für heute, nehme ich an.“
Dunkler Tanz des Kranichs
„Was sage ich euch schon die ganze Zeit“, Britta Peters ging ungeduldig vor der Bühne auf und ab, „mit Gefühl … mit mehr Gefühl!“
Die