Den Kopf hinhalten. Jens Rosteck
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Aber irgendwie stimmte die Mischung einfach. Weil es eine wilde Mischung war.
Genau wie die Klangkulisse – alle paar Meter spitzte ich die Ohren, um ein paar Takte Piaf, eine Strophe Gréco, einen Drehorgel-Refrain, den Beginn eines amerikanischen Jazzstandards oder die schunkelnden Akkordeon-Rhythmen einer Valse-Musette aufzusaugen.
Nichts passte zusammen, und doch war all das zusammengenommen Paris. Vielleicht zog mich genau dieses Sammelsurium, dieses Flickwerk aus scheinbar unvereinbaren optischen und akustischen Eindrücken in seinen Bann – und dann über den Tisch. Das Nebeneinander von Chic und Misere, von Mondänität und himmelschreiender Ungerechtigkeit. Die Parallelwelten: La Vie en rose hier, Les Feuilles mortes dort. Zuckerrosen und welkes Laub. Koseworte und kruder Umgangston, Feinsinniges und Grobschlächtiges.
War es da überhaupt noch notwendig, den vielgestaltigen Soundtrack der Großstadt mit meinen abgehobenen Klassikaufnahmen im Studio, die sich, nach der Pressung, bald auf den Plattentellern der Bürgerhaushalte drehen würden, zu vervollständigen und zu bereichern? Auf dem Weg dorthin, wo der Techniker schon auf mich wartete, begegnete mir jedenfalls auf Schritt und Tritt mein eigener Name – noch nicht abgenommene Plakate aus den Vorwochen, für die Konzertabende mit Sandro Magazzano in der Salle Pleyel, zierten zwischen Concorde, Place Vendôme und Élysée-Palast zahllose Häuserwände.
Offenbar gehörte ich hier schon dazu, offenbar war mein Name bereits Teil des Paris-Mosaiks. Nur ich selbst musste das noch begreifen und akzeptieren.
Es war, als hätte man mir eine Augenbinde abgenommen. Und mich, nach Jahren vollständiger Blindheit oder vergeblichen Herumtastens in stockdunklen, fensterlosen Räumen, wieder ins Helle geführt und neu sehen gelehrt. Paris empfing mich mit gleißendem, blendendem Licht. Es tat ein wenig weh, aber es war prachtvoll. Alles, was ich hier erblicken durfte, war eine Augenweide.
Als ich noch ein kleiner Junge und nie über die Dorfgrenzen von Apricale hinausgekommen war, hatten mir meine Eltern an einem Sonntagmorgen mit einem Stück Stoff die Augen verbunden. Um mich zu überraschen, um mir – damals vielleicht fünf oder sechs Jahre alt – eine Freude zu machen. Ganz vorsichtig verknoteten sie es hinten an meinem Kopf. Mehrere Stunden lang sollte ich, wie sie mir freundlich befahlen, still sitzen, artig sein und ja nicht versuchen, es herunterzureißen. Natürlich gehorchte ich.
Was ich nicht wissen konnte, war, dass Gennarino und Serafina an diesem Junitag in den frühen Dreißigerjahren eine Reise mit mir vorhatten. Heute würde man sagen: einen kurzen Ausflug. Denn Bordighera, wohin die Fahrt gehen sollte, lag höchstens zwanzig Kilometer von uns entfernt im Süden. Aber an der Küste. Und wir Magazzani fuhren sonst nirgendwo hin. Wie alle Leute aus den Bergen.
Einmal war ich, angestiftet von zwei Rotzlöffeln, die im Nachbarhaus in der Via Fiume wohnten, heimlich immerhin bis an das am tiefsten gelegene Ende von Apricale gelaufen, unten im Tal, zur kleinen Wallfahrtskapelle Santa Maria degli Angeli. Wo Pilger, die an den Wochenenden von nah und fern anreisten, vor den bunten Bildern und Skulpturen Kerzen anzündeten und Münzen auf den Boden warfen. Mehrere Hundert Lire wollte ich für mich und meine Kameraden erbeuten. Doch dann, als ich Dreikäsehoch bergabgerannt und mir fast die Puste ausgegangen war, hatte ich mich vor den überlebensgroßen Figuren der Dämonen mit ihren dunklen Augen und Drohgebärden und vor den blutüberströmten Heiligen gegruselt und mich gleich wieder getrollt. Ohne das Geld aufzuheben, ohne irgendetwas zu klauen. Die Nachbarskinder hatten mich daraufhin verspottet, Serafina hatte mich ausgeschimpft.
„Wir fahren deinen großen Bruder besuchen“, erklärte man mir. Was das mit meiner Vermummung zu tun, was die vollständige Einschränkung meines Blickfelds zu bedeuten hatte, erklärte man mir hingegen nicht. Seit einigen Monaten lag Umberto, der mittlere von uns drei Jungen und, wie ich erst später herausfand, an einer schweren Gehirnhautentzündung erkrankt, in einer Privatklinik an der Blumenriviera. Ich wusste damals nur, dass es ihm nicht gut ging und dass er nicht mehr daheim sein durfte. Fabrizio, der Älteste, half längst bei unserem Vater in der Schreinerei aus und fuhr zweimal die Woche mit dem Postbus in die Berufsschule nach Dolceacqua.
Soweit ich verstanden hatte, war die Klinik sehr teuer, die Eltern konnten sich die Behandlung gar nicht leisten, und es bestand ansonsten keine Aussicht auf Heilung für Umberto. Selbst Vater Gennarino hatte ich ein paarmal weinen sehen, wenn am Tisch die Sprache auf den kranken Sohn kam oder der Hausarzt bei uns vorbeischaute und mit Grabesstimme davon sprach, dass wir uns wohl bald von dem Dahinsiechenden verabschieden müssten.
Nur ein Wohltäter, so meinten alle, die uns kannten, hätte uns aus dieser verzweifelten Lage befreien können. Zwar gab es ein öffentliches Krankenhaus in Imperia, im Stadtteil Porto Maurizio, doch das war noch viel weiter weg, und außerdem wollte unser Vater auf keinen Fall etwas mit Mussolini und den Schwarzhemden zu schaffen haben, wie er sagte. Die Imperia allem Anschein nach fest im Griff hatten, denen man sich notfalls anbiedern müsste. „Nur über meine Leiche!“ Also schied diese Lösung von vornherein aus.
Irgendwann war dann aber eine Geldquelle gesprudelt, und zwei Pfleger hatten Umberto, der schon seit Monaten gefüttert werden musste, nicht richtig ansprechbar gewesen war und das Bett nicht mehr verlassen hatte, mit einem langen weißen Auto abgeholt, auf dessen Karosserie ein leuchtend rotes Kreuz gemalt war.
Seitdem hatte ich nie wieder etwas von ihm oder über ihn gehört, und ich vermisste ihn jeden Tag ein bisschen weniger. Ich war böse auf ihn, weil er nicht mehr mit mir spielte und mich, so wie ich es gerne mochte, beim Würfeln und Murmelkullern gewinnen ließ.
Nun saßen wir drei Magazzani auf der Ladefläche eines schlecht gefederten Erntefahrzeugs und rumpelten in die weite Welt hinaus. Es war heiß, laut, staubig und wahnsinnig unbequem, und je tiefer wir Sesshaften ins unbekannte Tal hinabfuhren, desto unerträglicher wurde die Hitze.
In den kurzen Abschnitten zwischen den Haarnadelkurven setzte mir Mama Serafina eine Flasche mit lauwarmem Wasser an die Lippen, betete einen Rosenkranz nach dem anderen, und ich versuchte, durch den Stoff hindurch etwas von der neuen Umgebung zu erkennen: ein hoffnungsloses Unterfangen. Meine Haut brannte.
Schließlich waren wir in Bordighera angekommen, jemand hob mich auf die Straße herunter. Ich roch Fisch, in Öl gebraten, fühlte einen Wind, der ein anderer Wind war, und eine Wärme, die ich noch nicht kannte. Mit der Zunge fuhr ich mir über den Mund. Schmeckte Salz. Ich hörte Verkehrslärm, lautes Hupen und knatternde Vespas, Marktgekeife und sirrende Geräusche, wie sie beim Messerschleifen entstehen. Hörte Menschen, die nicht unseren ligurischen Dialekt, sondern richtiges Italienisch sprachen, und merkwürdiges Vogelgeschrei. Und das alberne, nervöse Lachen der Eltern. Für die alles so neu war wie für mich, nur dass sie es wenigstens sehen und begreifen konnten.
Sie zogen mir die Sandalen aus, denn wir waren noch zu früh dran, noch war keine Besuchszeit in der Klinik, sie packten mich an den Schultern und gaben mir den Befehl, vorwärts zu gehen. Ich spürte etwas Weiches und unangenehm Heißes unter meinen Füßen, das beim Laufen ein wenig nachgab. Ich lief wohl durch eine Art Pulver, das plötzlich von etwas Nassem abgelöst wurde. Ich war froh, dass ich nicht stürzte, dass ich nicht gegen ein für mich unsichtbares Objekt stieß.
Wohl hundert Meter war ich gelaufen. Da war mein Vater zur Stelle und riss mir das Tuch vom Kopf, so wie man ein Pflaster mit einem Ruck von einer schorfigen, schon fast verheilten Wunde wegreißt, um die Qual zu lindern und zu verhindern, dass kleine, am Streifen festklebende Härchen den Schmerz beim Ablösen in die Länge ziehen.
„Ecco“, riefen meine beiden Erzeuger wie im Chor. Ein Jubelschrei.
Da sah ich es endlich, das Meer. Sah es zum ersten Mal. Sah nichts als endloses, leicht bewegtes Blau. Sah ein durch den Horizont