FriesenFlut. Nané Lénard
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Pusch jedoch vorsichtig die Nase aus dem Reißverschluss steckte, blickte sie direkt auf den Zipfel eines durchscheinenden Nachthemdes und ein Paar sehr alte, nackige Beine. Der Seewind ließ vermuten, dass sich unter dem geblümten Kleidungsstück nichts weiter befand, aber das wollte Oma Pusch nicht so genau wissen, denn sie hatte bereits erkannt, wer da vor ihr stand und sich auf seinen Rollator in Violett metallic stützte.
„Direkt vor uns steht die alte Marga“, flüsterte Oma Pusch ihrer Freundin zu.
„Wie ist die denn bis hierhergekommen?“, wunderte sich Rita.
„Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht“, wisperte Oma Pusch, „aber ich glaube, sie hat keine Unnerbüx an.“ Dann lauschte die heimliche Ermittlerin in Richtung Fundort, indem sie ihre Hände wie einen Trichter an die Ohren hielt.
„Kannst du denn was verstehen?“, erkundigte sich Rita.
Oma Pusch schüttelte den Kopf. „Aber ich kann ein bisschen was sehen. Warte!“ Sie zog wieder das Smartphone hervor und stellte auf zehnfache Vergrößerung. Dann lachte sie leise. „Du, die pinseln an der Glatze herum. Wahrscheinlich wissen die noch nicht mal, dass da unten kaum was dranhängt.“
„Hast du das Nils denn gesagt? Ich meine, damit er und Rico nicht erst mit so einem großen Transportsarg anrücken“, erklärte Rita.
„Bin ich bescheuert?“, fragte Oma Pusch. „Damit hätten wir uns doch verraten. Ich weiß aber, dass die neuerdings sowieso nur noch mit den schwarzen Säcken rumlaufen. Der Junge kommt auch langsam in die Jahre, weißt du. Ich glaube, er hat es mit dem Knie. Tagtäglich diese Schlepperei! Und oft der Weg durch den Sand, da sinken sie sonst noch mehr ein, wenn dann auch noch das Gewicht vom Sarg dazukommt. Rico hat sich schließlich durchgesetzt. Jetzt haben sie diese Säcke. Okay, die sind sicher praktisch, aber ich finde trotzdem, dass so ein Körper auf diese Weise wie Abfall verpackt wird. Daran werde ich mich nie gewöhnen.“
„Do geiht wat för!“, dröhnte es plötzlich krächzend über ihren Köpfen. „De Düvel is överall!“
Oma Pusch konnte sehen, wie die Ermittler am Strand zusammenzuckten. Jeder kannte die hochbetagte Marga, die der Zahl 100 bereits näher war als der 90. Meist erzählte sie vom Teufel und seinen Heimsuchungen. Wer konnte, wich ihr aus und suchte das Weite, doch oftmals erschien sie direkt bei der Polizei und erzählte ihre unheimlichen Geschichten. Man nahm sie nicht ganz ernst, aber über den Grad ihrer Demenz war sich niemand bewusst. Klar war nur, dass sie nicht mehr alle Lichter am Christbaum hatte. Nichtsdestotrotz hatten Oma Pusch und Rita herausgefunden, dass immer ein Körnchen Wahrheit in ihren Erzählungen steckte. Wenn man ihr genau zuhörte und pfiffig kombinierte, konnte man aus ihren Worten einen Teil herauslesen, der der Realität nahe kam. Das eine oder andere Mal hatte dieser Umstand Rita und Oma Pusch in die Lage versetzt, Fälle zu lösen, bevor die Kripo eine Ahnung hatte.
„De hätt sin Kopp verloren“, wusste Marga und schrie es gegen den Wind.
Nele Freese, die blonde Schönheit von der Spurensicherung, stöhnte. „Nicht wieder die olle Schnepfe!“
„Ist denn da nur ein Kopf?“, erkundigte sich Oberkommissar Eike Hintermoser neugierig. Wer sich über den merkwürdigen Namen wundert, bei dem Vorne und Hinten nicht zusammenzupassen scheint, schaut mal eben schnell ins Personenregister am Ende des Buches.
„Nee, ich sehe auch schon Schultern“, erwiderte Nele genervt. „Insofern hat die Alte unrecht.“
„Sie scheint mir auch schon ein paar Jährchen auf dem Buckel zu haben“, vermutete Oberkommissar Niklas Müller, der seit Kurzem das Team von Eike verstärkte. „Vielleicht ist sie nicht mehr ganz richtig im Kopf. Was hat sie überhaupt an? Ist das nur ein Nachthemd?“
Eike grinste frech. „Glaube mir, du wirst sie noch eher kennenlernen, als dir lieb ist, mein Freund.“
Eike Hintermoser und Niklas Müller hatten zusammen studiert. In dieser Zeit waren sie gute Kumpel geworden. Krischan Hansen, auch „Der Kaiser“ genannt, weil er im Grunde schon vor seiner Pension abgedankt hatte, würde nämlich bald in den Ruhestand gehen, und wegen der häufigen Mordfälle rund um Neuharlingersiel hatten sich die Oberen endlich entschlossen, eine weitere Kommissarenstelle zu bewilligen. Ob Hansens Posten wieder besetzt werden würde, war noch nicht bekannt, aber Eike hoffte es inständig.
„Wo ist eigentlich dein Chef, Bodo Siebenstein?“, fragte Eike.
„Der hat heute Urlaub, weil er im Garten helfen soll“, sagte Nele und grinste frech. „Ihr wisst schon, seine Lieblingsbeschäftigung. Ich wette, er wäre viel lieber hier.“
„Vielleicht tust du ihm einen Gefallen und rufst ihn an?“, schlug Eike augenzwinkernd vor. „Bei einem aktuellen Fall ist seine Anwesenheit doch bestimmt vonnöten, oder?“
„Seine Frau Trude wird mir den Kopf abreißen, aber okay, ich riskier’s, dann hab ich bei ihm was gut.“
Oma Pusch und Rita sahen, wie Nele sich ein Stück vom Fundort entfernte und telefonierte.
„Die brauchen Verstärkung!“, frohlockte Oma Pusch. „Wer weiß, was die noch entdeckt haben.“
„Vielleicht weitere Teile im Sand?“, überlegte Rita.
Neugierig beobachteten sie, dass sich Nele weiter an der Stelle zu schaffen machte.
„Aus dem Weg!“, dröhnte es plötzlich vom gegenüberliegenden Rand der Absperrung.
Die wohlbekannte Stimme gehörte einem älteren Herrn mit halblangem, weißem Haar. Er hatte einige Zeit dort gestanden und das Treiben beobachtet. Aber jetzt hielt er den Moment für gekommen, sich ins Geschehen einzubringen. Doktor Enno Esen hielt sich selbst für einen Müller-Wohlfahrt des Nordens. Doch seine Zeit als Schicki-Micki-Modearzt war längst abgelaufen. Die jungen, hübschen Touristinnen interessierten sich nicht mehr für ihn. Also war er vor einiger Zeit umgestiegen. Seine Praxis hatte er geschlossen, um als Rechtsmediziner an der Küste tätig zu sein. Das hatte gleich mehrere Vorteile. Von seinen Patienten bekam er keine Körbe mehr, sie quatschten auch nicht dumm rum, und seine Arbeitszeiten waren besser. Außer im akuten Fall teilte er sie sich einfach selber ein. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, dass er ein alter Sack war, auf den die Damen nicht mehr flogen. Also waren andere Prioritäten gesetzt worden. Enno genoss lieber einen schönen Wein bei gutem Essen und hatte ein Auge auf seine Schwägerin Lotti Esen geworfen. Klar, sie war kein knackiger Hüpfer mehr, aber durchaus amüsant, ziemlich intelligent und ließ ihn zappeln. Das liebte er. Heutzutage war es ihm wichtiger, sich in der Gegenwart einer besonderen Frau wohlzufühlen als die schnelle Nummer auf dem Schreibtisch im Arztzimmer. Ja, selbst er war mit den Jahren ruhiger geworden.
Am Leichenfundort kam er genau im richtigen Moment an. Nele Freese stand etwas fassungslos vor dem Torso, der ihr soeben auf die Knie gekippt war. Vorsichtig rutschte sie rückwärts.
„Na, was haben wir denn da?“, fragte Enno mit väterlicher Stimme. „Verbeugt sich da jemand vor dir?“