Baltrumer Dünensingen. Ulrike Barow

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Baltrumer Dünensingen - Ulrike Barow

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die Baltrum I ihren Bug dem Baltrumer Hafen zudrehte, hielt es Sigmar nicht mehr unter Deck. »Darf ich, bitte?« Er nahm seinen Rucksack und stand auf. Auch Ulf griff nach seiner Tasche.

      »Ihr könnt es wohl gar nicht mehr erwarten«, lachte Hans. »Denkt dran. Morgen zum Frühschoppen. Elf Uhr.«

      »Wir kommen«, versprach Sigmar und hatte das Gefühl, als hätte Ulf diesem Hans zugeblinzelt. Was sollte das? Sie waren keine Jugendlichen mehr. Die Zeiten für Techtelmechtel waren eindeutig vorbei. Außerdem gehörten sie beide seit vielen Jahren zusammen. Techtelmechtel – auch so ein Begriff aus grauer Vorzeit, ging ihm durch den Sinn. Wenn man heute einen jungen Menschen fragen würde, was er bedeutet, bekäme man nur ein ratloses Schulterzucken zurück. Er hatte sich viele dieser Worte bewahrt und stand mit der neuen Angewohnheit, ständig etwas Englisches einfließen zu lassen, ziemlich auf Kriegsfuß.

      Ein kräftiger Wind pfiff ihnen um die Nase, als sie das Schiff verließen. Dort, wo die Container abgeladen wurden, sah Sigmar einige Menschen mit Schildern stehen. Ihre Vermieterin hatte zugesagt, dass ihr Mann sie abholen würde. Sie sollten nach dem Schild »Haus Emma« schauen. Sorgsam warf er einen Blick auf alle Namen, doch er fand keines mit »Haus Emma« darauf.

      Auch Ulf schüttelte den Kopf. »Keiner da.« Er wandte sich einem Mann zu, der offensichtlich auf seine Gäste wartete. »Entschuldigen Sie, wir suchen Herrn Flegel. Sehen Sie den irgendwo?«

      »Nix kennen«, erwiderte der Mann freundlich, »fragen den da.« Er zeigte auf einen Mann, der trotz der Augustwärme einen dicken Anorak trug.

      Ulf ging zu ihm und wiederholte seine Frage. Diesmal hatte er Glück. Zumindest, was die Auskunft betraf.

      »Ich sehe ihn nicht, aber dort steht die Wippe. Die können Sie nehmen und damit Ihr Gepäck zum Haus Emma schieben. Schätze mal, die erwarten Sie erst mit dem nächsten Schiff.«

      Sie warteten, bis der Platz, auf dem die Container standen, freigegeben war, beluden die Karre und schoben los. Sigmar hatte sich im Vorfeld angesehen, wo die Pension zu finden war. Genau genommen wusste er es, doch er war sich nicht sicher gewesen, ob seine Erinnerung korrekt war. Sie reihten sich in den Strom der Gäste ein, der sich vom Hafen zum Ortskern bewegte. Sigmar wäre am liebsten alle paar Meter stehengeblieben. Es gab so viel Neues zu sehen. Sie liefen auf ein mächtiges Haus mit grauen Fensterläden zu. Dort war einmal das Nordseehotel Zur Post gewesen, daran erinnerte er sich genau, obwohl es mehr als 40 Jahre her war, dass er hier den Sommer verbracht hatte. Und damals hatte er sein Augenmerk bestimmt nicht der Inselarchitektur, sondern vielmehr anderen jungen Männern geschenkt, die wie er in der Kajüte und im Inselkeller abrockten. Dummerweise hatten die meisten jedoch eine Freundin. Nur einer, Friedhelm, den sie alle Freddy nannten, hatte sich gerne von ihm zum Bier einladen lassen. Yes Sir, I can boogie von Baccara. Das war ihr Lieblingslied gewesen.

      »Links oder geradeaus?«, holte ihn Ulf aus seinen Gedanken.

      »Rechts und immer geradeaus. Ins Ostdorf.« Er gab der Wippe einen Ruck und bog von der Hafenstraße ab und ging mit kräftigen Schritten am Nationalparkhaus vorbei. Die Inselbesichtigung konnte beginnen, nachdem sie ihre Koffer im Haus Emma abgeladen hatten.

      Je weiter sie gingen, desto unsicherer wurde er. Waren sie hier richtig? Die Straße ging doch südlich vom Spielteich entlang und nicht hier, unterhalb des Deiches? Oder versah er sich? Egal. In der Ferne sah er die ersten Häuser des Ostdorfes. Bald hatten sie das Haus Oase erreicht, und dann waren es nur ein paar Meter und er stellte die Wippe auf dem schmalen Rasenstück vor der dunkelbraunen Eingangstür ab. Sigmar atmete tief durch, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß ab.

      Auch Ulfs Gesicht war knallrot und ihm standen Tropfen auf der Stirn. »Sag mal, was war das denn gerade?«, schnaufte er. »Ich dachte, wir würden uns die Insel anschauen?«

      »Dafür haben wir genug …«, Sigmar versagte die Stimme. Wieder atmete er röchelnd. »… morgen und die anderen Tage genug Zeit. Ich wollte einfach nur ankommen, verstehst du?«

      »Da sind Sie ja. Ich habe schon auf Sie gewartet«, unterbrach ihn eine helle Stimme.

      Sigmar drehte sich zur Tür. »Frau Flegel?«

      »Wer sonst? Haben Sie meinen Mann nicht mitgebracht?«

      »Wir haben am Hafen nach ihm Ausschau gehalten. Aber man sagte uns, er sei nicht da. Da haben wir uns die Wippe genommen und nun sind wir hier«, erklärte Sigmar der Frau, deren Augen nur noch schmale Schlitze waren. Ihre Lippen hatte sie zusammengepresst. Sie winkte den Männern und verschwand im Flur.

      »Das soll wohl heißen, wir sollen ihr folgen«, vermutete Ulf und hob den ersten Koffer von der Wippe. »Nimm du meinen. Der ist leichter.«

      Sigmar war sich nicht sicher, ob er die Kraft hatte. Das Schieben der Karre war ihm schwergefallen. Zumal die Räder tatsächlich einen Tropfen Öl oder was auch immer gebraucht hätten. In der letzten Zeit merkte er öfter seine Grenzen. Er hatte es bisher selbst Ulf gegenüber nicht zum Thema gemacht. Das unregelmäßige Pochen in seiner Brust sollte nicht sein Leben bestimmen. Dafür war er mit 66 einfach zu jung. Darum hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, Ulf die Wippe zu überlassen. Auf der Insel ankommen und nebenherlaufen? Keine Option! Als sie Frau Flegel in den ersten Stock folgten, schoss es Sigmar nicht zum ersten Mal durch den Sinn, dass es nicht nur sein Alter, sondern die vielen überflüssigen Kilos waren, die seinem Herz zu schaffen machten. Er beobachtete neidisch, wie behände Ulf die Stufen hochstieg. Aber es war kein Wunder. Sein Mann war schlank und rank und sorgte mit ausgiebigem Laufen und jeder Menge Gymnastik dafür, dass sich daran nichts änderte. Er selbst hatte sich bis heute nicht aufraffen können, sich täglich eine halbe Stunde an der Weser entlang zu bewegen oder andere Sportabenteuer zu wagen. Es ging nicht. Er kriegte seinen Hintern einfach nicht hoch. Ulf hatte ihn zu Anfang gebeten, dann aufgefordert, ihn zu begleiten. Seit längerer Zeit sagte er allerdings nichts mehr, und Sigmar war nicht böse darum. Sein innerer Schweinehund konnte wieder ruhig schlafen.

      Neugierig schaute er sich im Flur um. Bis zur halben Höhe war die Wand mit dunkelbraunem Holz verkleidet. Die vergilbte Tapete darüber wies nur hie und da ein schwaches Blumenmuster auf. Die Wand rechts von der Treppe wurde von einem übergroßen Seestück beherrscht. Auch das hätte sicher eine Reinigung verdient. Sigmar erinnerte sich an ein ähnliches Bild, das bei den Eltern eines Schulfreundes gehangen hatte. Dieses Bild mit dem Dreimaster auf hoher See hatte ihn so schwer beeindruckt, dass er mit dem Gedanken gespielt hatte, Kapitän zu werden. Herrscher der Meere. So hatte er sich insgeheim genannt. Aber dann hatte ein gesunder Respekt vor der Kraft des Wassers gesiegt, und er war im Einwohnermeldeamt gelandet.

      »So, hier ist es.« Frau Flegel öffnete die Tür.

      Sie wurden von einer lichtdurchfluteten Suite empfangen. Der Unterschied zu dem düsteren Flur mit den abgenutzten Fliesen auf der Treppe war verblüffend. Ein großes Bett dominierte den Raum, daneben war genügend Platz für zwei Sessel, denen man die Gemütlichkeit ansah, und einen großen Fernseher. Ein Schrank mit einem großen Spiegel und eine Kommode, auf der eine imposante Kaffeemaschine stand, vervollständigten den Eindruck.

      »Hier ist das Badezimmer.« Frau Flegel deutete auf eine hellgebeizte Tür. »Es ist alles da. Toilette, Dusche, Badewanne. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl.«

      »Das werden wir.« Ulf schob seinen Koffer ein Stück weiter. »Wann gibt es Frühstück?«

      »Von 8 bis 10.30 Uhr. Es sei denn, Sie haben Sonderwünsche oder müssen am Tag Ihrer Abreise eher fahren.«

      Ulf winkte ab. »Das passt. Zur Kurtaxe haben wir uns angemeldet. Die Rechnung ist bezahlt. Müssen wir noch etwas bedenken?«

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