Blutgrätsche. Jürgen Neff

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Blutgrätsche - Jürgen Neff

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in der ersten Mannschaft des FCH-Vorgängers VFL Heidenheim, später war er Jugendtrainer. Und mit 50, als das nicht mehr so ging, begann er damit, Marathon zu laufen. Und dann rafft ihn der Blutkrebs innerhalb eines halben Jahres weg. Der Benzeler hat’s nicht glauben wollen, mein Vater auch nicht. Ich weiß noch, wie ich nach der zweiten Chemo mit Papa beim Arzt sitze und nicht anders kann, als zu fragen: ›Von wie lange sprechen wir? Reden Sie mal Tacheles.‹ Und der sagt: ›Fünf, sechs Monate.‹ Ich glaube, Papa wollte das gar nicht wissen. Und was antwortet er? ›Pffff. Ich schaffe mehr.‹«

      Schröter sieht mich lange an. »Also gut. Ich habe es verstanden: Es geht ums Wir-Gefühl.«

      Ganz genau. Die Musik der Kurve. Mir ist bewusst, für einen Außenstehenden, für jemanden, der nicht damit groß wurde, ist das nicht leicht nachvollziehbar. Und für so einen Piefke wie Schröter noch viel weniger. Man kann es nicht erklären, man muss es fühlen. Erleben. So wie ich nicht nachvollziehen kann, wie es sein muss, in einem Villenviertel irgendwo in Norddeutschland aufzuwachsen, als Sohn eines Arztes. Sicher hat Schröter deshalb auch noch nie angesetzt, um mir mehr über sich zu erzählen. Es ist völlig anders, etwas mit Worten zu beschreiben oder es wirklich zu erfahren. Musik. Das Gefühl, das sich einstellt, wenn du in der Fankurve stehst, seit 80 Minuten dein Team anfeuerst und die endlich den Treffer erzielen, die Osttribüne völlig austickt, sich Fremde in die Arme fallen – das kannst du niemand mit Worten vermitteln. Man kann es eigentlich gar nicht erklären. So, wie wenn man frisch verliebt ist, das lässt sich auch nicht treffend beschreiben. Es ist Musik in der Seele, ein Gleichklang der Herzen. Etwas, das dich mit deinem ganzen Sein ergreift, mit allem, was du bist, verschluckt und die Welt um dich herum völlig verändert.

      »Die Societas«, erkläre ich Schröter weiter, »waren anfangs nicht sehr beliebt. Eine eigene Frauen-Ultra-Gruppe. Das war nicht leicht, sage ich dir. Die mochten uns nicht, haben uns geschnitten. Aber wir wollten es so. Wir waren begeistert von der Mannschaft, die Welt der Ultras jedoch bestand aus Kerlen. Der Vorsänger, der Vorstand der Fanclubs, die ganze Struktur auf der Ost, alles eine reine Männerclique. Viele der Frauen kamen anfangs lediglich mit, weil ihre Typen so begeistert waren und sie wenigstens dabei sein wollten. Erst nach und nach steckten sie sich selbst mit dem Virus an.«

      »Die Männer hatten trotzdem das Sagen in der Kurve, nehme ich an.«

      »Exakt. Und wir? Die Societas waren strange, für die Männer wie für die nur mitlaufenden Frauen. War ein echter Kampf.«

      Schröter nickt und nippt.

      »Irgendwann kam die Akzeptanz. Weiß nicht genau, warum: Ob mit der Zeit oder weil sich insgesamt etwas geändert hat. In der Gesellschaft, meine ich. Weil es plötzlich in Ordnung war, wenn Frauen in diese Männerdomäne einbrachen. So wie es weibliche Ministranten gab und so was. Wir gehörten plötzlich dazu, zur Fangemeinde und aktiven Szene.« Ich lache. »Nur eines wird wohl niemals passieren: eine Frau als Vorsängerin im Fanblock.«

      »Hast du selbst denn einmal Fußball gespielt?«

      Ich verstehe die Frage nicht.

      »Auf den Platz gehen, gegen einen Ball treten.«

      »Bist du bekloppt? Frauenfußball ist doch langweiliger Scheiß. Ich fuhr eine Weile im Rallye-Sport. Und mit Katrin war ich mal beim Boxtraining. Aber Frauenfußball? Ne. Geht gar nicht.«

      »Und wie ist das dann? Wie bei Rockstars? Du weißt schon.« Schröter grinst. »Na, die Bandmitglieder schnappen sich angeblich immer irgendwelche Groupies.«

      Ich pfeife durch die Zähne. »Das geht dich gar nix an. Aber ich weiß zufällig, dass die Schwestern bei der Aufstiegsfeier in die zweite Liga mit den Spielern und den Fanaticos in der Dusche standen und Schampus soffen. Wäre zu gern dabei gewesen.«

      »Das Mordopfer war früher mit einem der Spieler zusammen?«, fragt Schröter.

      Ich ziehe mein Handy heraus und öffne das Foto, das ich heute bei Katrin von dem Bilderrahmen geschossen habe. »Johannes Lederer. Der Mittelstürmer damals. Cooler Typ. Wir vier, Johannes, mein Ex Leo, Cat und ich, waren ein Herz und eine Seele. Leonhard hat heute eine gute Position im Verein.«

      Ich halte es schwer aus, dass Schröter Katrin als »das Mordopfer« bezeichnet. War man einmal einem Menschen so nahe, dass man das Gefühl hat, ihn ganz und gar zu kennen, zu wissen, wie er denkt und fühlt, wie er riecht, wie soll man den Gedanken daran ertragen, dass diese Person einfach nicht mehr da ist? Ich habe es beim Tod meines Vaters schon so erlebt. Unmittelbar ist da, wo zuvor eine ganz besondere Verbindung war, nichts mehr, sie erlischt in diesem Moment für immer. Vermutlich werden wir das niemals begreifen können. Weil es mit dem Verstand überhaupt nicht zu erfassen ist. Das absolut Undenkbare.

      Ich muss an meinen Exmann denken. Letztlich ist es mit einer Trennung auch nichts anderes. Eine unglaubliche Nähe erlischt plötzlich und wird ersetzt durch unüberbrückbare Distanz. Auch wenn die Erinnerung an die ehemalige Verbindung bei beiden erhalten bleibt. Die Spannung zwischen dieser Nähe und der Distanz spüre ich jedes Mal, wenn ich ihn treffe.

      Johannes hat Cat in der Tat einen Antrag gemacht. Verdammt, Katrin. Warum hast du ihn nicht festgenagelt? Ich frage mich, wer wohl ihre Brautjungfer gewesen wäre, und nehme einen weiteren Schluck Bier. Schröter auch. Wenn man das so nennen kann.

      »Also noch mal Fußballkunde für Dummies. Erstens: Das Runde muss ins Eckige. Foul ist, wenn der Schiri pfeift; zumindest bei einem Foul an einem unserer Spieler. Drittens: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Es gibt keine Spielpausen, Fußballferien oder so ein Zeug. Ist man echter Ultra, dann lebt man für den Fußball und für den Verein. Wie jede Liebe, Tag und Nacht, 24/7, die ganze Scheißarbeitswoche durch. Egal, ob es darum geht, mal bei einem Training zuzusehen, in der Kicker-App neue Nachrichten über die Verletzung eines Spielers nachzulesen oder sich mit der Bande in der Sportbar zu treffen, um die Choreografie für den Sonntag zu besprechen oder eine neue zu entwickeln.«

      »Choreografie«, wiederholt Schröter ironisch.

      »Schnauze, Schröter. Warst du überhaupt schon mal im Stadion?«

      Schröter grinst. »Du wärst überrascht.«

      »Wieso?«

      »Na gut, ein einziges Mal nur, mit fünf. Mein Vater hat mich mitgenommen. WM-Endspiel 1990.«

      Ich verschlucke mich an meinem neuen Bier. »Echt jetzt?« Die wievielte Flasche ist das eigentlich? »Scheiße. Du warst im Stadion in Rom?! 8. Juli 1990. 1:0 gegen Argentinien. Littbarski, Klinsmann, Brehme – und Diego Maradona! Das fass ich jetzt nicht.«

      Schröter ist sichtlich stolz, und ich denke mir nur: Mein langweiliger Kollege war beim WM-Finale. Der ist offensichtlich völlig ahnungslos, was das bedeutet. Er stammt doch aus einer ganz anderen Welt. Schröter trägt Hemd und Krawatte, immer. Zugegeben, es steht ihm. Aber die Grundsätzlichkeit stört mich. Ich könnte ihn zu einem Grillabend einladen, und er käme mit Krawatte. Sollte ich gelegentlich austesten. Und seine spießige Grundhaltung, zu der so altbackene Regeln gehören wie »Don’t fuck in the Factory« oder »Appetit holen okay, gegessen wird zu Hause«, geht auch gar nicht. Das passt doch überhaupt nicht mehr in unsere gefräßige und oberflächliche McDonald’s- und Tinder-Kultur.

      »Mein Vater ist wie ich kein Fußball-Interessierter. Aber WM, klar. Wenn das ganze Land mitfiebert …«

      »… dann wird auch aus dem Chefarzt und Anzug-Golfer ein Fachmann.«

      »So ungefähr. Wir verfolgten die Spiele der Deutschen zu Hause, und als es im Raum stand, dass wir ins Finale einziehen, konnte er das

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