Blutgrätsche. Jürgen Neff

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Blutgrätsche - Jürgen Neff

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Definitiv keine gewaltfreie Kommunikation mehr.

      Und endlich setzt sich auch der Grinsekellner in Bewegung, macht große Augen und fragt, ob er die Polizei rufen soll. »Ne, die ist schon da.« Den Satz wollte ich schon immer einmal sagen. Ich zeige ihm meinen Ausweis, beuge mich langsam zu dem Hündchen hinab und flüstere ihm ins Ohr: »Ich sehe von einer Anzeige ab. Aber ganz ehrlich: Du solltest an deiner Flirttechnik arbeiten.« Mit diesen Worten lasse ich ihn liegen.

      Ich sag’s ja: eine einzige Götterkomödie.

      Die Musik der Kurve: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel

      Schröter lacht noch immer über die Geschichte mit meinem Tinder-Date. Mit Abstand und genügend Alkohol ist sie ja auch durchaus witzig.

      »Scheiße, war der Tag bitter.« Ich bin müde und angeschlagen.

      Wir sitzen im König Wilhelm. Die einzige Kneipe, die nahezu alles hat, was meine Seele für ein bisschen Entspannung benötigt: abgewetztes Mobiliar, aufrechte Drinks ohne Hipster-Schnickschnack, Raucherlaubnis. Mein persönliches Feng-Shui; zerschundene Umgebung für eine wunde Seele. Und heute ist sie besonders wund.

      Das erste Bier habe ich beinahe in einem Zug geleert. Ich habe mich wieder einigermaßen im Griff. Auch deshalb, weil ich gedanklich ein wenig weg war von unserem »Fall«. Ich will Cats Tod eigentlich nicht so nennen.

      »Du warst also mal FCH-Fan.«

      »Bin. Nur nicht mehr aktiv.«

      »Aha.«

      Schröter nippt an seinem Bier. Ja, er nippt. Sonst ist er in Ordnung. Aber saufen kann man nicht mit ihm. Und von Fußball hat er keinen blassen Schimmer.

      »Warum verbringst du deine Sonntage dann nicht mehr im Stadion, sondern zu Hause auf der Couch und chattest mit fremden Männern?«

      »Was ich mit fremden Typen tue, geht dich gar nichts an, Schröter. Du hattest deine Chance in der vierten Arbeitswoche. Und ins Stadion gehe ich nicht mehr, weil ich mit dem Thema durch bin.«

      »Aha.«

      »Weil ich es nicht mehr will.«

      »Aha.«

      Der geht mir auf die Nerven! »Herrgott. Ist ’ne längere Geschichte.«

      Er nippt wieder. Meine Güte!

      »Ich war in jungen Jahren bei den Societas.«

      »Du warst mal jung?«

      »Haha. Vorderste Front. Unser Banner hängt am Zaun auf der Ost direkt neben dem der Fanatico Boys.«

      »Das ist vermutlich das männliche Pendant der Ultras.«

      »Genau. Pendant. Du bist ein Kombinationsgenie, Alter. Wirst es noch weit bringen bei der Kripo.« Ich trinke mit einem kräftigen Zug mein Bier aus und bestelle zwei neue. Auch wenn Schröters noch nicht einmal halb leer ist. Die nächste Kippe.

      Ja, gut. Ich habe Schröter in seiner vierten Arbeitswoche angegraben. Ich finde ihn durchaus attraktiv. Und im großen Ganzen ist er auch so weit okay. Und wer kann schon wirklich wissen, wie es bei den Leuten zu Hause gerade läuft.

      »Und was tut man da so? Als Ultra?«

      »Was Fans eben so tun. Sich treffen, gemeinsam zum Spiel gehen, anfeuern, zu Auswärtsspielen fahren, die Mannschaft unterstützen, eskalieren. Die spielten damals noch in der dritten Liga; aber schon richtig gut. Und wir haben sie angepeitscht und gebrüllt, bis das Rachenzäpfchen wund war.«

      »Was ist das Fanprojekt, von dem die Mutter des Opfers sprach?«

      »So etwas gibt es in mehreren Städten, fast überall, wo große Vereine sind. Fanprojekte funktionieren als Netzwerke unter den Anhängern, vermitteln zwischen Vereinen und Fangruppen. Das Ganze wird unabhängig von den Clubs unterstützt: vom DFB, vom Land und von sozialen Einrichtungen. Hier in Heidenheim sind zwei Sozialpädagogen beim Fanprojekt angestellt. Damals gab es solche Einrichtungen noch nicht. Vielleicht sollten wir uns mal mit denen unterhalten. Die fahren bei den Spielen mit, nehmen sogar an den Sicherheitsbesprechungen davor teil, weil sie nah an den Fans dran sind und einschätzen können, wie die Stimmungslage ist.«

      »Okay.«

      »Seit die Fans da eine Plattform und ein Forum finden, trifft sich die Szene dort vor dem Spiel, und dann geht es geschlossen hoch zum Albstadion. Nach dem Spiel ist dort meistens noch Halligalli.«

      »Diesen Rummel kann ich ja nicht nachvollziehen.«

      Ist mir klar.

      »Die Emotionen. Warum diese Aufregung wegen eines Spiels?«

      »Da geht’s nicht um ein Spiel, Schröter. Da geht’s um Identität. Die Bande, die Societas, das war wie eine Familie. Die ganze Fantribüne. Du hast doch Kinder. Wenn die in der Schule gut sind oder im Sport irgendwas reißen, macht dich das stolz. Weil sie zu dir gehören.«

      »Natürlich bin ich dann stolz.«

      »Mein Vater war aus der Wunder-von-Bern-Generation. Einer derjenigen, die das Glück hatten, zu jung zu sein für den Nazikrieg. Zu Hause mit Muttern, nichts zu futtern. Und danach Besatzung, wieder nix zu fressen. Und dazu die Scham des Verlierers, die wachsende Erkenntnis der Deutschen, dass sie nicht einfach Opfer dieses kleinen Ösis waren, der ein unschuldiges Volk verführte, sondern dass sie das wirklich alles mit durchgezogen, dabei Europa verwüstet und Millionen Menschen den Tod gebracht haben. Als Kind nimmst du es nur unbewusst wahr, aber du kriegst es mit, und du kannst es noch viel weniger einordnen oder von dir fernhalten. Die Schuld, die Offenlegung der Grausamkeiten, all diese Scheiße.« Interessiertes Nippen. Solche Gespräche mag der Schröter. »Aufgewachsen in dem Bewusstsein, die größte Schuld der Welt auf seinen Schultern zu tragen. Ein Wunder, dass man da überhaupt wächst. Und dann kam diese Fußball-Weltmeisterschaft. Bei der Deutschland ein absoluter Außenseiter war, ein Verlierer, der Dreck unter den Fingernägeln der Welt. Und gewinnt überraschend, wird Weltmeister. Das war eine Offenbarung für das Land, für die Menschen. Ob sie das nun verdient hatten oder nicht.«

      »Schon klar. Die Deutschen waren wieder wer. Aber die Welt tickt heute anders.«

      »Tatsächlich? – Ich weiß noch genau, wie meine Schwester und ich an seinem Totenbett saßen und er uns vorschwärmte, wie der Teil der Familie, der den Krieg überlebt hatte, damals gebannt vor dem Radio hing und die letzten Momente des Endspiels mitzitterte. ›Tooor! Tooor! Deutschland ist Weltmeister!‹ Genauso wie sie zehn Jahre zuvor bei den Propaganda-Sendungen der Nazis saßen und dann bei den Berichterstattungen über die Prozesse. Und mit einem Mal hat das Land das Gefühl, wieder irgendwas Positives getan zu haben. Etwas Gutes geleistet. Wenigstens ein weißer Fleck auf dem kriegbeschmierten Hemd. Wie er immer von den Helden von Bern schwärmte, von Fritz Walter, von Kaiserslautern. Die halbe Nationalmannschaft bestand damals aus Spielern vom Betze. Wie heute von Bayern München.«

      Ich muss lachen. Ich glaube, es wäre schwierig für meinen Vater geworden, hätte er den Aufstieg der Heidenheimer in die zweite Liga noch erlebt und der FCH wäre gegen die Lauterer auf dem Betzenberg angetreten. Na ja. Nicht wirklich. Aber ein wenig schizophren. Er fand die Heidenheimer klasse, aber Kaiserslautern war für ihn der Olymp. Das Unantastbare.

      »Woran ist er gestorben?«

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