Der Fall Gloriosa. Johannes Wilkes
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Der Fall Gloriosa - Johannes Wilkes страница 2
Man brauchte kein Radiologe zu sein, um zu erkennen, was passiert war. Die feinen Fingerknochen waren vielfach gebrochen, ja, an vielen Stellen völlig zersplittert.
»Der Ärmste muss versucht haben, der Gloriosa auszuweichen. Als sie stärker zu schwingen begann, hat er vielleicht noch probiert, sich in der entgegengesetzten Richtung vom Klöppel abzustoßen und den Zusammenprall auf diese Weise zu vermeiden. Als das nicht mehr möglich war, als seine Kräfte nachließen, wollte er zumindest seinen Kopf schützen und hat seine Hände verzweifelt vor die Schläfen gehalten. Zusammen mit dem Kopf sind sie zwischen Klöppel und Glocke geraten, so lange, bis sie völlig zertrümmert waren. Das Opfer hat schließlich das Bewusstsein verloren, seine Arme sind schlaff hinabgesunken und der Kopf hat die volle Dröhnung abbekommen: dong, dong, dong!«
Mütze nickte. So konnte es gewesen sein. Wer aber ließ sich freiwillig in eine Glocke binden? Oder hatte es zuvor einen Kampf gegeben, gab es entsprechende Spuren?
Der Rechtsmediziner zuckte mit den Schultern. »Bislang haben wir nichts dergleichen gefunden. Aber Sie sehen ja selbst, der Zustand der Hände … Wir sind noch dran. Ob sich jedoch DNA-Spuren vom Täter finden lassen, bleibt ungewiss.«
»Adam Sternberg, 59 Jahre, städtischer Gärtner.« Hauptkommissar Thomas Stulpenpilz, von jedermann nur »Braunkärsch« gerufen wegen seiner unbezähmbaren Vorliebe für Butterstullen mit Brunnenkresse, wischte auf seinem Tablet herum, während Mütze hinter ihm stand.
Seit gerade mal vier Wochen bildeten sie ein Team. Nach sieben Erlanger Jahren hatte sich Mütze nach Erfurt versetzen lassen, der Liebe wegen. Sein Freund Karl-Dieter hatte eine neue Herausforderung gesucht. Vielleicht hatte er sich auch nur von seinem einfach nicht verstummenden Kinderwunsch zu befreien versucht, wer weiß? Alle sieben Jahre muss man sich häuten, hatte er jedenfalls gesagt. Die Stelle des leitenden Bühnenbildners am Theater Erfurt war ausgeschrieben gewesen und die Wahl war auf Karl-Dieter gefallen. Ein paar Monate waren die Freunde zwischen Erfurt und Erlangen hin- und hergependelt, mit dem ICE durch den durchlöcherten Thüringer Wald, dann waren sie die Reiserei mit der chronisch unpünktlichen Bahn leid geworden und Mütze hatte sich ebenfalls in Erfurt beworben. Nun war er da und hatte seinen ersten Mordfall. Und was für einen!
»Bist du sicher, Braunkärsch, ich meine, wir haben dem Toten ins Gesicht gesehen. Auch wenn es ziemlich zermatscht gewesen ist, die Ähnlichkeit ist doch wirklich nur eine sehr entfernte. Zudem haben wir keinerlei Papiere gefunden.«
Braunkärschs Augen blitzten. »Mensch, mach de Glotzen uff!« Er vergrößerte die Fotografie auf seinem Tablet so weit, dass der kleine Ohrring, der das linke Läppchen zierte, zu einem Türklopfer heranwuchs. »So einen Ohrring gibt es nur einmal in Erfurt, da kannste Gift drauf nehmen!«
Mütze kniff die Augen zusammen. Der Ohrring war offensichtlich ein handgeschmiedetes Unikat. Er zeigte ein stilisiertes Mühlrad. Genau dieser Ohrring hatte in der Nierenschale neben dem Seziertisch gelegen.
Insgeheim hatte sich Mütze auf Erfurt und das neue Umfeld gefreut, auch wenn er das Karl-Dieter gegenüber nie zugeben würde. Ewig seinem Lebenspartner hinterherzureisen, war das nicht etwas würdelos? Der Umzug von Dortmund nach Erlangen war echt hart gewesen, vom fröhlich mordenden Ruhrpott in eine Stadt, die keine Universität hatte, sondern eine war. Das Leben in Erlangen glitt einfach zu friedlich übers Pflaster. Lauter Akademiker, die meinten, jeden, aber wirklich jeden Streit friedlich lösen zu müssen. Was blieb da für einen Kommissar übrig? Der einzige Grund, die Ärmel hochzukrempeln, war das Schäufele am Sonntag. Der aktuelle Umzug versprach beruflich eine deutliche Verbesserung. Erfurt war zwar nicht als Thüringens Antwort auf die Bronx verschrien und doch durfte man sich als hungriger Kriminalkommissar mehr erwarten als Klöße und Rostbratwürste. Und hungrig war Mütze immer noch, auch wenn er bereits einen 50. Geburtstag hatte erdulden müssen. Nach wie vor scharrte er mit den Hufen und suchte die berufliche Herausforderung. Und nun, nach nur vier Wochen, steckte er schon mittendrin in seinem ersten Erfurter Fall. War das nicht wunderbar? Zumal eines klar war: Dieser Fall war keiner von der Stange. Mord mit ’ner Glocke! Wumm-bum! »Den Mörder muss ein unglaublicher Hass getrieben haben. Wozu sonst der Aufwand?«
»Oder wir haben es mit seinem Sadisten zu tun, mit einem Psychopathen«, gab Braunkärsch zu bedenken.
Mütze verzog sein Gesicht, um sein Grinsen zu verbergen. Die Thüringer sprachen das P so zärtlich aus wie die Franken, weich wie ihre Klöße war auch ihre Art zu sprechen. Dialektmäßig betrachtet hatte der Umzug keine Probleme bereitet. Aber klar, Braunkärsch war nicht zu widersprechen, auch ein Psychopath kam in Betracht.
»Und zwar einer von der geschmacklosen Sorte«, fügte der Kollege hinzu, »unsere Gloriosa als Mordwaffe zu missbrauchen, welch bodenlose Frechheit!«
Geschmacklos, ja direkt widerlich fand auch Karl-Dieter das Verbrechen. Die Freunde saßen zusammen in ihrer schicken Wohnung im Brühl, dem Stadtteil, der sich zwischen das Theater und den Petersberg kuschelte. Das Brühl ist ehemals eine Schmuddelecke gewesen, verschiedene Gewerbebetriebe hatten sich hier angesiedelt. Lange her. Mittlerweile hatte man das ehemalige Werksgelände zu Büros und Wohnungen umgebaut, hohe Räume mit französischen Fenstern im Industriedesign, sehr stylisch. Am schicksten war das Dompalais in der Peterstraße, in dem sich die Wohnung von Karl-Dieter und Mütze befand. Von der Dachterrasse hatte man einen Blick auf einen kleinen Grünstreifen, den ein Bächlein wässerte, auf der gegenüberliegenden Seite sah man zum Domberg hinauf. Einfach malerisch!
Karl-Dieter musste erst am Nachmittag zur Probe und hatte anlässlich des Osterfestes butterzarte Lammlachse gebrutzelt. Dazu gab es Rosmarinkartoffeln, schön kross, wie Mütze sie liebte, grüne Speckbohnen und als Osterwein einen Bio-Primitivo von einem kleinen Familienweingut aus Apulien.
»Wie ist der Täter denn auf den Turm hinaufgelangt? Ich meine, da ist doch sicher immer abgesperrt.«
»Man muss links um den Dom zur Hochterrasse, dort geht’s zu den Türmen. Das Türschloss war unversehrt, der Täter muss einen Schlüssel gehabt haben.«
»Und wie hat er sein Opfer überzeugt, mit ihm auf den Turm zu steigen?«
»Vielleicht so.« Unvermittelt sprang Mütze auf, setzte Karl-Dieter das Steakmesser auf die Brust und zischte: »Komm mit auf den Turm, wenn dir dein Leben lieb ist!«
Entsetzt wich Karl-Dieter zurück: »Mensch, Mütze, hör doch auf mit dem Scheiß!«
Lachend setzte sich Mütze wieder, um sich eine weitere Scheibe vom Lamm hinunterzusäbeln. »Vielleicht hat der Täter aber auch einen Trick gebraucht, vielleicht hat er seinem Opfer erzählt, in der Glockenstube sei ein Schatz verborgen.«
»Ganz genau, Mütze. Und oben angekommen hat er dann zu ihm gesagt, halt mal schön still, den Schatz kannst du besser betrachten, wenn ich dich mit den Füßen in der Glocke aufhänge.«
»Hast schon recht, Knuffi, er wird ihm natürlich vorher was auf die Glocke gegeben haben.«
»Mütze!«, sagte Karl-Dieter pikiert.
Zugegeben, das Wortspiel war etwas daneben. Und doch könnte es so gewesen sein. Und kein Rechtsmediziner der Welt würde herausfinden, ob Sternbergs Schädel vor dem Glockenschlag bereits ein anderer Gegenstand getroffen hatte, nicht mal Professor Hahnemann, und das wollte etwas heißen.
»Keine Angehörigen?«
»Nur eine senile Tante, die in einem Arnstädter Altenheim ihr Leben fristet«, sagte Braunkärsch. »Sternberg lebte allein. Keine Frau, keine Kinder, nicht mal einen Wellensittich. Eigentlich