Der Fall Gloriosa. Johannes Wilkes
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Читать онлайн книгу Der Fall Gloriosa - Johannes Wilkes страница 4
Während Mütze Gummi gab, wischte Braunkärsch auf seinem Smartphone herum.
Mütze grinste. »Und? Heute was dabei?«
»Ach, hör uff.«
Seit mehr als drei Jahren schon war Braunkärsch Single. Viel zu lange hatte er seiner Sylvia hinterhergetrauert, hatte vergeblich auf eine zweite Chance gehofft. Nun versuchte er es mit Tinder, konnte sich aber nicht entschließen, eine der Frauen auf die rechte Seite zu wischen. Die einen waren zu attraktiv, vor denen fürchtete er sich, und die anderen, na ja, die anderen wollte er nicht.
»Du musst von der Attraktivität mindestens fünf Punkte abziehen«, lachte Mütze, »weißt schon, wegen Photoshop und so.«
Braunkärsch brummte nur einen unverständlichen Kommentar. Auch verriet er nicht, wer ihn auf Tinder gebracht hatte. Oder wusste es Mütze etwa schon?
Rechts erhob sich lustlos der Tower. Bindersleben war erreicht. Statt zu den Terminals abzubiegen, ließ Mütze seinen Manta in eine südlich gelegene Siedlung rollen. Alle Straßen des Viertels hatte man nach Sternbildern und Sternen benannt, vielleicht als Referenz an die letzten noch abhebenden Flieger: Orion, Capella, Pegasus … Das Haus mit der Nummer 32 war eines dieser freundlich-nichtssagenden Reihenhäuser, wie sie auch in den Weichbildern von Castrop-Rauxel und Buxtehude herumlümmelten.
»Hier könntest du mich nacksch über den Zaun hängen«, sagte Braunkärsch, der zum überzeugten Innenstadtkäfer mutiert war.
Mütze lächelte und drückte die Klingel. Nichts rührte sich. Mütze klingelte ein zweites Mal. Kevin Wieland schien nicht zu Hause zu sein.
»Schönes Wetter heute, nicht wahr?«
Eine ältere Nachbarin mit blumenübersätem Strohhut besprenkelte ihre Osterglocken und grüßte zugleich freundlich über die wellenförmig beschnittene Tujenhecke.
»Mütze, Kriminalpolizei, mein Kollege, Hauptkommissar Stulpenpilz. Können Sie uns sagen, wo Herr Wieland steckt?«
»Kriminalpolizei?« Erschrocken ließ die Frau ihre Gießkanne sinken. »Ist was passiert?«
Statt auf die Frage einzugehen, kramte Mütze ein Foto des Toten aus der Tasche, das er aus dessen Wohnung mitgenommen hatte. »Kennen Sie diesen Herrn?«
Die Frau fingerte nach ihrer Brille, die an einem silbernen Kettchen vor ihrer Gartenschürze baumelte. »Ja, gewiss, der Herr ist mir bekannt. Er hat den jungen Herrn Wieland immer mal besucht. Ich glaube, die beiden sind Kollegen. Herr Wieland ist Gärtner, wissen Sie. Was ist denn mit dem Herrn auf dem Foto?«
»Er ist von hinnen, und zwar nicht ganz freiwillig.«
»Um Himmels willen! Und Sie glauben, dass Herr Wieland …? Nein, niemals! Der junge Mann ist der freundlichste Mensch der Welt, er gibt mir so viele gute Tipps für unseren Garten, der tut keiner Fliege was zuleide.«
»Haben Sie vielleicht mitbekommen, dass die beiden sich einmal gestritten hätten?«
»Nein, nein! Wie kommen Sie darauf? Die zwei sind gute Freunde gewesen.«
»Wo arbeitet Herr Wieland denn?«
»Bei der Stadtgärtnerei. Die haben doch jetzt so viel zu tun, Sie wissen schon, unsere Gartenschau. Aber sagen Sie, der Mann da auf dem Foto, der Freund von Herrn Wieland, das ist doch nicht etwa der Ärmste, den die Gloriosa erschlagen hat?«
Erfurt verstand das Kunststück, Hauptstadt zu sein und zugleich ein Dorf. Noch bevor die Presse über den Mordfall berichten konnte, wussten alle längst Bescheid. Erfurt kam prächtig ohne digitale Netzwerke zurecht, ohne soziale und unsoziale. Von Mund zu Mund lief die Neuigkeit weiter, von Haus zu Haus, von Straße zu Straße. Der Glockenwart des Mariendoms, der wegen des grausamen Glockenklangs auf den Turm geeilt war, hatte den schockierenden Grund in der Sakristei berichtet, so hatten es die Besucher des Ostergottesdienstes erfahren, hatten schnell ihr Kreuzzeichen gemacht, um sich vor der Domtür auszutauschen und dann die Handys zu zücken und Verwandte und Freunde zu informieren. »Es heißt, er habe in der Gloriosa gehangen.« »Kann man’s glauben?« »Er sei total zerklöppelt worden.« »Nein, wie furchtbar!« »So ein Verbrechen!« »Das hätte es früher nicht gegeben.«
Auch am Theater schüttelte jeder ungläubig den Kopf. Zwar kannte man sich in der Bühnenwelt mit blutigen Mordfällen bestens aus, eine solche Moritat aber wäre selbst Shakespeare nicht eingefallen. Viel Zeit für langes Rühren in der Gerüchteküche blieb allerdings nicht, steckte man doch in den finalen Vorbereitungen für die Premieren anlässlich der angelaufenen Gartenschau. Diese sollte ein Erfurter Gesamtkunstwerk werden, nicht allein auf die Präsentation hübscher Blümchen wollte man sich beschränken, alle Bürger der Stadt und erst recht die Kulturschaffenden sollten sich einbringen, das war der Plan. Der Intendant des Erfurter Theaters hatte sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Sebastian Bächlein, der Erfurter Hauskomponist, hatte Les Fleurs du Mal, die Blumen des Bösen, für das Ballett eingerichtet, eine Auswahl von sechs Gedichten Baudelaires, vertont mithilfe assoziativer Klänge. Grandios war das Bühnenbild gelungen, das Karl-Dieter entworfen hatte. Baumhohe Blumen wuchsen aus der Bühne, helle, freundliche Margeriten, welche im Laufe des Stückes allmählich zu schwarzen Monstern welkten, eine technisch schwierige Aufgabe, die Karl-Dieter mit Bravour gelöst hatte, auch wenn er, bescheiden und selbstkritisch, wie er war, alle Vorschlusslorbeeren von sich wies. Morgen war Premiere, das Publikum sollte staunen. Bei der Generalprobe am heutigen Nachmittag war die Öffentlichkeit nicht zugelassen. Nichts sollte nach außen dringen. Das junge Ballettensemble war hoch motiviert und ging bis an die Grenzen seiner körperlichen Leistungsfähigkeit. Besonders gefiel Karl-Dieter ein dunkelhaariger Spanier, Eduardo Contés mit Namen, der sich durch eine große Ernsthaftigkeit auszeichnete. In jeder seiner Bewegungen spürte man, wie er in seiner Rolle aufging, jeder Sprung, jede Drehung war Ausdruck einer enormen inneren Energie, einer völligen Verschmelzung mit der Musik, ja, in manchen Momenten schien es, als würde nicht der Dirigent im Graben, sondern der Körper des jungen Mannes das Orchester leiten. Wenn Eduardo am Ende des Stücks erschöpft auf der Bühne stand, atemlos und schweißgebadet, fühlte Karl-Dieter bei aller Begeisterung eine leichte Sorge in sich aufsteigen. Das konnte auf die Dauer nicht gut gehen. Bei aller Professionalität – und Karl-Dieter liebte Professionalität –, die Gefahr schien nicht gering, dass der junge Mann seinen enormen, ja schon fast übermenschlichen Einsatz bald bitter bezahlen musste.
Wer hatte etwas gesehen? Wer hatte eine Beobachtung gemacht? Wer war in der Nacht zuvor oder am frühen Morgen am Domberg gewesen und hatte mitbekommen, wie jemand die Tür zu den Türmen geöffnet hat? Der Erfurter Domberg war das Zentrum der Stadt, sein Panorama weltweit einzigartig. Selbst der abgebrühteste Atheist verspürte einen Moment der Ergriffenheit angesichts des Ensembles, zu dem der Hohe Dom und die Severikirche verschmolzen. Ihre sechs Türme bildeten die Krone der Stadt. Die freie Treppe mit ihren 70 Stufen, einst »Graden« genannt, führte genau auf das seitlich angebrachte Triangelportal zu, eine raffinierte architektonische Lösung, betrat man gotische Kirchen doch zumeist durch das Westportal, welches sich in Erfurt jedoch an der stadtabgewandten Seite des Domes befand. Die breite Freitreppe verschmälerte sich nach oben zusehends, was den Eindruck der Steilheit des Berges noch hervorhob.
Angesichts