Der Fall Gloriosa. Johannes Wilkes

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Der Fall Gloriosa - Johannes Wilkes

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sie heimlich das Brot nannten, darum gebeten. Seinen Spitznamen trug der Leiter des Kommissariats, weil er mindestens so missmutig dreinschaute, wie Bernd das Brot, ja, der depressive Brotlaib war verglichen mit dem Kriminalbeamten eine echte Stimmungskanone. Nur der alte Pförtner behauptete, beim Brot einmal den Anflug eines Lächelns bemerkt zu haben, gute 20 Jahre her, zumindest habe ein Mundwinkel für einen Sekundenbruchteil die Andeutung einer Verlängerung gemacht, er könne sich jedoch auch täuschen. Winfried Mühlhauser, so der bürgerliche Name des Leiters der Erfurter Kriminalpolizei, stand kurz vor der Pensionierung, in der er sich ganz seinem Hobby, der Erfurter Stadtgeschichte, widmen wollte. Der Tod in der Glocke hatte auch ihn schockiert. Das Attentat am Gutenberg-Gymnasium ausgenommen, war ihm in seinem ganzen Arbeitsleben ein solch brutales Verbrechen noch nicht vorgekommen.

      »Das schlimmste Unglück in der Domgeschichte seit dem Erfurter Latrinensturz.«

      »Latrinensturz?«

      »1184. Der Landgraf von Thüringen und der Bischof von Mainz hatten sich in den Haaren gelegen, wer das Sagen im Lande hat. Kaiser Heinrich war eigens angereist, den Streit zu schlichten. Das ganze Gefolge hatte sich in der Dompropstei versammelt, auf dem zweiten Geschoss, als der Boden nachgab und alles in die Abtrittgrube fiel. 60 Tote soll es gegeben haben, darunter auch der Burggraf von der Wartburg, alle in der Scheiße ertrunken.«

      »Prost Mahlzeit!«

      »Mütze, Sie haben mein vollstes Vertrauen. Gehen Sie an die Öffentlichkeit, ich sag Linda Bescheid, wir stellen es sogleich auf unsere Facebookseite.«

      Linda Bleibtreu war ihre Pressereferentin. Fast hätte Mütze es bedauert, schwul zu sein, in die hübsche Sächsin mit den lustigen Augen hätte er sich sofort verliebt.

      »Ich bin keine Sächsin, ich bin Thüringerin«, hatte sie ihm mit gespielter Empörung erwidert.

      »Warum sächseln Sie dann?«

      »Mein Gott, Mütze, stellen Sie mal die Lauscher auf, ich komme aus Gotha!«

      Der Abend war bereits angebrochen, als die beiden Kommissare auf dem Domplatz eintrafen. Sie hatten sich ein zweites Mal mit Udo Binge verabredet, dem Glockenwart des Mariendoms. Der Mittvierziger sah immer noch reichlich mitgenommen aus, das bartlose Gesicht war blass wie ein Blumenkohl, fahrig der Blick.

      »Wissen Sie, Herr Kommissar, es ist alles so unwirklich, wie in einem schlechten Horrorfilm. In dem Moment, in dem ich das scheußliche Läuten gehört habe, wusste ich gleich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. So schnell bin ich noch nie auf dem Turm gewesen. Wie ich oben ankomme, stockte mir der Atem. Ich konnte nicht glauben, was ich mit ansehen musste. Der schwingende Körper in der Glocke, der Klöppel, der abwechselnd gegen den armen Mann und gegen die Gloriosa schlug, und dann das Blut, all das viele Blut. Am schlimmsten aber war das Bersten, als der Kopf des Mannes zwischen Klöppel und Glocke geriet, dieses furchtbare Bersten, es will nicht mehr aus meinen Ohren hinaus. Kennen Sie das Geräusch, das entsteht, wenn man eine Kokosnuss fallen lässt? Furchtbar, einfach furchtbar! Ich hatte noch versucht dazwischenzugehen, aber die Macht der Glocke ist ungeheuer, ich hatte keine Chance, nicht den Hauch einer Chance. Ich konnte nur zuschauen, bis die Gloriosa endlich, endlich zum Stillstand kam.«

      Mütze nickte mitfühlend und dankte Udo Binge, dass er dennoch gekommen war und ihnen nicht nur aufschloss, sondern sich sogar bereit erklärt hatte, erneut mit auf den Turm zu steigen.

      »Keine Ursache, Herr Kommissar, ich hab zu meiner Gabi gesagt, man soll nicht davonlaufen, sonst wird alles nur noch schlimmer. Wenn ein Kind von einer Schaukel fällt, setzt man es doch sofort wieder darauf, verstehen Sie? Vielleicht verarbeite ich dann alles besser.«

      »Und Sie sind sich sicher, dass der Turm tatsächlich abgeschlossen gewesen ist?«, fragte Mütze.

      »Hundertprozentig, Herr Kommissar. Die letzte Turmführung habe ich selbst betreut, Samstag, um 16 Uhr, danach hab ich die Tür unten versperrt, ziemlich genau gegen halb fünf, dann bin ich heim zu meiner Gabi.«

      »Und sonntags finden wohl keine Führungen statt?«

      »Erst später, nach dem Hochamt, das heißt, heute natürlich nicht.«

      »Also muss der Täter mit seinem Opfer zwischen Samstag halb fünf und dem Sonntagsgeläut auf dem Turm gewesen sein.«

      »Ganz genau. Und er muss auch wieder abgeschlossen haben, die Tür ist nämlich versperrt gewesen, als ich am Sonntag das Geläut anstellen wollte. Wissen Sie, das ist das Schlimmste daran, dass ich es gewesen bin, der die Gloriosa in Gang gesetzt hat. Verstehen Sie, ich hab den armen Kerl auf dem Gewissen, ich hab ihn umgebracht.«

      »Aber Sie konnten doch nicht wissen, dass ein Mensch in der Glocke hängt. Sie sind unschuldig, vollkommen unschuldig, genau wie die Glocke.«

      »Ich weiß, ich weiß, wissen Sie, wie oft mir das meine Gabi schon gesagt hat? Und dennoch …« Udo Binge griff in die Tasche und zog einen altertümlichen Schlüssel hervor.

      »Darf ich mal?«, fragte Mütze, nahm den Schlüssel in die Hand und betrachtete ihn. Auf dem verschnörkelten Griff war eine Glocke zu sehen.

      »Schön, nicht? Eine Idee unseres Herrn Bischofs, die Turmschlüssel mit dem Bild der Gloriosa zu verzieren.«

      »Wer besitzt denn alles einen Turmschlüssel?«

      »In unserem Pfarrbüro hängt einer, außerdem besitzt natürlich der Herr Bischof einen, auch ein paar der anderen Domgeistlichen, natürlich die Turmführer, ja, und auch die Feuerwehr hat einen.«

      »Hat jemand seinen Schlüssel als vermisst gemeldet?«

      »Nicht, dass ich wüsste.«

      »Braunkärsch, könntest du das überprüfen?«

      »Aber klar doch.«

      »Okay, gehen wir!«

      147 Stufen waren geschafft, 30 fehlten noch. Dem Glockenwart merkte man die Anstrengung trotz seines elenden Zustandes kaum an, er war das Treppensteigen gewohnt, auch Mütze war trainiert. Während Karl-Dieter die Frühstückseier briet, joggte er jeden Morgen am Ufer der Gera aus der Stadt hinaus und durch den Steigerwald wieder zurück. Einzig Braunkärsch, der gemütliche Typ aus den Thüringer Wäldern, kam ziemlich ins Keuchen. Sie waren ein Stockwerk unterhalb der Gloriosa angelangt, wo die Turmuhr hing.

      »Das ist noch das Originaluhrwerk aus dem Jahre 1853, feinste Mechanik«, sagte der Glockenwart und deutete auf Drahtseile, die mehrere Meter lang waren, und ein langsam schwingendes Pendel. »Die Uhr stammt aus Weimar, aus der Werkstatt des Großherzoglichen Hofuhrmeisters Jacob Auch. Sein Präzisionsinstrument funktionierte zuverlässig bis 1920, musste aber jeden Tag per Hand aufgezogen werden und wurde deshalb von einem elektrischen Laufwerk abgelöst. Heute wird die Turmuhr per Funk aus Braunschweig gesteuert, von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Wir haben das mechanische Uhrwerk wieder restaurieren lassen, sehen Sie, ist das nicht wundervoll?«

      Mütze nickte. Das alles tat zwar nichts zur Sache, dennoch konnte er den Glockenwart verstehen. Viele geschockte Menschen hielten krampfhaft an etwas Gewohntem fest, als könnten sie das aus den Fugen geratene Leben wieder zusammenleimen. Der Leim des Glockenwarts war offensichtlich die Historie des Glockenturms und alles, was damit zusammenhing. Bei allem Verständnis für die Psychologie des Mannes drängte Mütze weiter. Er war schließlich kein Historiker, er musste einen Mörder fangen, und zwar möglichst bald. Bei solch einem spektakulären Fall war der öffentliche Druck enorm.

      Eine

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