Seerausch. Marlies Grötzinger
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Die erste Begegnung mit Carl W. Dangelmann, den seine Mitarbeiter hinter vorgehaltener Hand nur »CaWe« nannten, weil er großen Wert auf die Abkürzung seines zweiten Vornamens mit dem Anfangsbuchstaben und einem Punkt legte, hatte sich in Isabels Herz eingebrannt. Das war gerade einmal fünf Monate her. Im April hatte sie ihre neue Stelle bei der Wasserschutzpolizei in Friedrichshafen angetreten. Sie erinnerte sich an das überbordende Glücksgefühl in ihr, nun an ihrem geliebten Bodensee arbeiten und leben zu können. Sie erinnerte sich an diesen Frühlingsmorgen, an dem Tulpen und Osterglocken in den frisch ausgepflanzten Uferanlagen um die Wette blühten und dufteten, an dem alle Zeichen auf Neubeginn und Freiheit standen.
Sie erinnerte sich, wie der Dienststellenleiter sie zu sich gerufen und überschwänglich begrüßt hatte. Wie er selbstzufrieden seinen Einsatz für sie und ihre Versetzung betont hatte, weil er eine Frau im Führungsteam der Wasserschutzpolizei Friedrichshafen haben wollte. Vom ersten Augenblick an war Isabel fasziniert von seiner Ausstrahlung, seinem Charme, seinen stechend klaren hellblauen Augen, seiner samtenen Stimme. Etwas an seinem Auftreten verunsicherte sie zwar, doch sie ignorierte die mahnende Stimme in ihrem Innern. Beflügelt wischte ihr entflammter Körper ihre Gewissensbisse weg.
Isabel gestand sich ein, dass Carl ihr zu Beginn ihrer Beziehung gutgetan hatte. Durch ihn hatte sie ihren Neuanfang am Bodensee wie einen taumelnden Rausch und besonders intensiv erleben dürfen. Das war am Anfang, als sie seinen wahren Charakter noch nicht erkannt hatte. Sein Werben hatte ihr geschmeichelt, jede ihrer Zellen hatte es begierig eingeatmet. Seine Stimme hatte sie eingehüllt wie eine warme Wolldecke. Seine Worte hatte sie regelrecht aufgesaugt, hatte tagelang von seinen Komplimenten gelebt. Die körperliche Nähe, die leidenschaftliche Intimität hatte sie in völlig neue, unbekannte Sphären katapultiert. Sie hatte die Frau in sich wieder gespürt, sich lebendig und begehrenswert, attraktiv, ja unwiderstehlich gefühlt.
Diese Sinnesreize hatte sie bei Thomas schon seit längerem vermisst. Thomas, ihr Freund, der noch in Tübingen geblieben war, um sein Philosophiestudium abzuschließen und mit dem Doktortitel zu krönen. Thomas, dem seine philosophischen Studien und seine toten Vorbilder im Laufe der Zeit wichtiger geworden waren als sie, seine äußerst lebendige Partnerin. Thomas, für den es selbstverständlich war, dass sie ihn, den ach so brillanten Geisteswissenschaftler, versorgte und mit den profanen Dingen des Alltags verschonte. Genauso, wie seine Mutter es zuvor getan hatte. Thomas, der sich alle Zeit der Welt lassen konnte mit Studium und Promotion, weil seine Eltern – Annerose und Rechtsanwalt Doktor Hubertus von Harnsfeld – ihren einzigen Sohn finanziell äußerst großzügig unterstützten.
Auch was die Beziehung zu Thomas betraf, quälten Isabel nun starke Schuldgefühle. Ruhelos drehte sie sich um und starrte an die Decke. Sie hatte die Defizite gespürt, hatte darunter gelitten. Warum hatte sie nicht rechtzeitig ein klärendes Gespräch gesucht? Warum hatte sie nicht aufbegehrt? Warum hatte sie Thomas nicht schon lange gesagt, dass es so nicht weitergehen konnte? Hatten nicht ihre unerfüllten Bedürfnisse, die ins Leere gelaufenen Bitten nach Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit sie erst schwach werden lassen – im Angesicht von Carls bestechenden Reizen, dem Blick in seine blauen Augen … Carl war ihr erschienen als der Ausweg aus einer langjährigen Beziehung mit starren Rollen, wenig Fantasie und zunehmender Distanz. Er gab ihr das Gefühl, endlich ihre Sexualität wieder selbstbestimmt ausleben zu können, Befriedigung zu erfahren, ein Abenteuer zu erleben, fernab ihres einstudierten Frauenbildes. Vielleicht wollte sie einfach frei sein, das brave Mädchen, das sie 32 Jahre lang gewesen war, hinter sich lassen. Doch was hatte sie sich davon versprochen?
Mit nicht enden wollenden Warums dämmerte Isabel vor sich hin. Dazu spukten die Fetzen eines Gedichts von Ulla Hahn in ihrem Kopf herum … Mit Haut und Haar … Damals, im Gymnasium, hatte sie es auswendig vortragen müssen und lustlos an der Interpretation gebastelt. Die Zeilen erschienen ihr unverständlich und übertrieben. Beim Umzug von Tübingen nach Friedrichshafen war ihr der Gedichtband »Herz über Kopf« wieder in die Hände gefallen, wie auch immer. In den vergangenen Monaten fühlte sie sich von dem Buch magisch angezogen. Wusste ihr Unterbewusstsein etwa, dass sie gerade eine Phase des Wandels durchlebte? Sie ihrem Kopf nicht länger gestatten wollte, allzeit über ihr Herz zu dominieren? Isabel hatte immer wieder in dem Band geblättert und »Mit Haut und Haar« hatte sie mehr und mehr beschäftigt:
Ich zog dich aus der Senke deiner Jahre
und tauchte dich in meinen Sommer ein
… Du wendetest mich um.
Du branntest mir dein Zeichen
mit sanftem Feuer in das dünne Fell.
Da ließ ich von mir ab. Und schnell
begann ich vor mir selbst zurückzuweichen …
Anfangs blieb noch Erinnern
ein schöner Überrest der nach mir rief …
Da aber war ich schon in deinem Innern
vor mir verborgen. Du verbargst mich tief
Bis ich ganz in dir aufgegangen war:
Da spucktest du mich aus mit Haut und Haar.
Nicht alle Zeilen der Dichterin waren noch präsent in Isabels Gehirn. Doch jedes poetische Wort, diese in wenigen Sätzen erzählte, tragisch endende Liebesgeschichte erschien Isabel als die ihrige. Ulla Hahn hatte in den Zeilen exakt das getroffen, was am Ende der Beziehung in ihr vorging. Es kam ihr vor, als hätte die Autorin ihre Zeit mit Carl vorhergesehen: Warum war ich so dumm und habe nicht auf die Warnung aus der Jugendzeit gehört? Naiv und leichtsinnig habe ich angenommen, in diesem lustvollen Spiel Erfüllung zu finden. Ich bin nicht nur Thomas, ich bin auch mir selbst untreu geworden, vor allem mir selbst. Ich habe meine Werte und Prinzipien über Bord geworfen, mich selbst vergessen und verloren, nur um ein Abenteuer zu erleben. Nur um des Kribbelns willen, das mich jedes Mal überfiel, sobald ich Carls Blicke und seine körperliche Nähe gespürt hab. Carl hat mich vereinnahmt, von mir und meinem Körper vollkommen Besitz ergriffen – mit Haut und Haar. Bereitwillig habe ich mich ihm hingegeben, voller Lust und eigenem Verlangen, bin ganz aufgegangen in ihm. Erst nachdem er mich geködert hatte, blickte ich mehr und mehr hinter seine Maske: Er fing an, sein wahres Gesicht zu zeigen. Auch mir gegenüber begann er, sich kalt, unberechenbar und respektlos zu verhalten, genauso, wie ich ihn seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenüber unzählige Male erlebt habe. All das habe ich beobachtet, zwar mehr und mehr erschrocken, doch habe ich nicht gewagt, Carl damit zu konfrontieren. Auch mir fehlten, genauso wie den anderen, die nötige Kraft und der Mut, mich ihm zu widersetzen und mich zu wehren. Mit dieser grauenvollen Erkenntnis döste Isabel ein …
Das Boot, es schaukelt hin und her … hin und her … Im selben Rhythmus spürt die Frau das Vor und Zurück … vor und zurück zwischen ihren Oberschenkeln. Wollust und Sinnesrausch sind stärker, lassen den Schmerz, den die harten Regalbretter am Rücken auslösen, vergessen. Ein plötzlicher Ruck reißt das Liebespaar auseinander. Der Mann rutscht seitwärts ab. Die Frau, nackt, schreit auf, verliert das Gleichgewicht und landet auf dem Fußboden, wird nassgespritzt. Teller, Gläser, Taschen, Schuhe – was nicht gesichert ist, fliegt durch den Raum. Mit einem Mal braust Wasser, überall. Wo kommt es her?