Seerausch. Marlies Grötzinger
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Immer noch starrte Isabel auf Carl, als sie plötzlich ein Schluchzen vernahm. Erstaunt drehte sie den Kopf. Am Nebenbett saß eine Frau, in sich zusammengesunken, und kramte in ihrer Handtasche. Isabel hatte die Frau bisher noch gar nicht bemerkt. »Guten Tag«, flüsterte sie ihr zu, denn sie traute sich nicht, laut zu reden.
Die Frau zückte ein Taschentuch, schnäuzte sich und blickte aus rotgeweinten Augen zu Isabel auf. Ein leises »Grüß Gott« kam über ihre bebenden Lippen. Bevor sie weiterreden konnte, betrat ein Mann in weißem Kittel den Raum. Er grüßte die beiden Frauen knapp und blieb vor Carls Bett stehen. Kurz musterte er Isabel und fragte: »Sind Sie eine nahe Verwandte?«
Isabel trat einen Schritt zur Seite. Der Kloß in ihrem Hals verhinderte eine Antwort. Sie faltete ihre Hände und nickte heftig.
»Doktor Held. Ich bin der Anästhesist«, stellte sich der Arzt vor, während er bereits zu den Geräten blickte und die Zahlenreihen auf dem Monitor kontrollierte. »Noch keine Reaktion, aber das will nichts heißen.«
Wieder zu Isabel gewandt, fuhr er fort: »Wir tun unser Möglichstes. Wir wissen nie genau, was ein Patient in welchem Stadium mitkriegt, und ebenso wenig, wie weit der Patient weg ist.«
Isabel blickte den Mediziner flehend an. Der vertiefte sich in seine Unterlagen und sagte: »Der Patient hat eine schwere Pneumonie, das Lungengewebe ist geschädigt.« Nach einer Pause fügte er in zuversichtlichem Ton hinzu: »Eigentlich hat der Patient gute Chancen. Er ist unterkühlt gerettet worden und wir haben im MRT kein Hirnödem entdeckt.«
Obwohl ihn sein Beruf wahrscheinlich täglich mit solchen Befunden konfrontierte, klang aus seiner Stimme Mitgefühl. Jetzt gelang es Isabel nicht mehr, ihre Tränen zurückzuhalten, und sie ließ ihnen freien Lauf.
Doktor Held fuhr sich durch die Haare, um mit dem unerwarteten Gefühlsausbruch besser umgehen zu können. Er räusperte sich und sagte: »Also jetzt lassen Sie mal den Kopf nicht hängen, junge Frau. Es sieht gar nicht so schlecht aus. Wir haben den Patienten in ein künstliches Koma versetzt, um den Erhalt der lebenswichtigen Funktionen besser steuern zu können.«
Ein hoffnungsfrohes Blitzen in ihren Augen verriet dem Mediziner, dass Isabel verstanden hatte. Nach einer kurzen Pause, in der Doktor Held nochmals seine Akte studierte, redete er weiter: »Der Mann ist noch relativ jung, wie es aussieht topfit, und er hat keine Vorerkrankungen. Der kann das schaffen. Wir tun jedenfalls, was wir können. Das verspreche ich Ihnen.«
Nach diesen Worten klappte er die Akte zu, warf einen kurzen Blick auf den anderen Patienten, schenkte der Frau neben dem Bett ein Lächeln und verließ das Zimmer.
Es war mucksmäuschenstill im Raum, nur das regelmäßige Piepsen der Überwachungsgeräte war zu hören. Isabel schaute zu der Frau hinüber. Sie saß auf ihrem Stuhl, drückte ein Taschentuch vor den Mund, weinte lautlos und starrte auf den Mann im Bett vor ihr. Isabel fiel nichts ein, was sie der Frau sagen könnte, und sie trat wieder einen Schritt näher an Carls Bett. Sie nahm allen Mut zusammen, mit zitternden Fingern hob sie das dünne Laken an und suchte nach Carls Hand. Ein Schauer schüttelte Isabel, als sie seine kalten Finger ertastete. Wie die Hand eines Toten, durchzuckte es sie. Nur kurz drückte Isabel die Hand und zog die ihrige dann schnell zurück. In Carls bleichem Gesicht erkannte sie nicht den Anflug einer Reaktion.
Isabel konnte es kaum ertragen, Carl so hilflos daliegen zu sehen, und zermarterte ihr Gehirn mit Selbstvorwürfen: Hätte sie doch bloß seinem Werben gleich zu Anfang, als sie ihren Dienst am See angetreten hatte, nicht nachgegeben. Wäre sie nicht schwach geworden, sondern sich und ihren Werten treu geblieben, er würde nicht hier liegen und leiden …
Sie fixierte seine geschlossenen Lider. Jedoch war es schließlich er, Carl, der sie verführt, der sie umgewendet hatte. Wieder geisterten einzelne Wörter des Gedichts der Lyrikerin durch ihr Gehirn: … Du wendetest mich um … schnell begann ich vor mir selbst zurückzuweichen … Bis ich ganz in dir aufgegangen war: Da spucktest du mich aus mit Haut und Haar …
Wie oft hatte Isabel ihren Treuebruch schon in den Wochen vor dem Unglück bereut, hatte das Verhältnis beenden wollen. Sie war zu inkonsequent gewesen, obwohl ihre Leidenschaft bereits bröckelte. Jetzt war es zu spät für diese Erkenntnis, und das Schuldgefühl schnürte Isabel die Brust zusammen. Außerdem empfand sie die Situation, an Carls Bett zu stehen und nichts tun zu können, mehr und mehr als beklemmend. Plötzlich betrat eine Krankenschwester das Zimmer.
»Ah, hallo«, sagte die Schwester in resolutem Ton, als sie Isabel bemerkte. Mit einer Hand drehte sie routiniert an den kleinen Kunststoffrädern der Infusionsflaschen, so dass die Tropfen schneller strömten. Dabei murmelte sie, ohne Isabel nochmals anzusehen: »Der Patient liegt in tiefem Koma. Mal sehen, ob da wieder was kommt. Machet Sie sich keine große Hoffnung. Der Mann war so lang hypoxisch. Allerdings … man weiß ja nie.«
Isabel zuckte zusammen, als die Worte an ihr Ohr drangen, und starrte die Schwester von der Seite an. Wie konnte jemand nur so wenig einfühlsam sein? Sie öffnete ihren Mund, wollte einwenden, Doktor Held habe eine viel positivere Diagnose gestellt, aber die Schwester schritt schon zum nächsten Bett, rüttelte dort kurz an einem Schlauch des Patienten und marschierte wieder zur Tür hinaus. Isabel sah ihr nach und dachte: Wahrscheinlich arbeitet sie schon lange auf der Intensivstation und sieht hier jeden Tag Elend und Leid. Bestimmt härtet das ab. Dann blickte sie wieder in Carls Gesicht. Seine Züge hatten sich nicht verändert. Kleine Fältchen zogen sich von den Augenwinkeln zum Haaransatz. Die Haare klebten am Kopf. An seinem Kinn das Grübchen. Wie oft hatte sie einen Finger hineingelegt, es mit der Zunge geleckt und danach mit geschlossenen Augen seine vollen Lippen gesucht. Jetzt waren sie blutleer und blass. Isabel horchte in sich hinein, spürte keinerlei Erregung aufkommen. Stattdessen meldete sich ihr Verstand: Ob Carl wohl eine Patientenverfügung hatte? Wer würde im Fall des Falles entscheiden, ob die Ärzte die Geräte abschalten durften? Isabel tastete instinktiv nach dem kleinen Ledermäppchen in der Außentasche ihres Rucksacks. Hatte Carl einen Organspenderausweis? Bestimmt nicht. Über so etwas hatte sich Carl sicherlich nie Gedanken gemacht. Hätte er sich doch bloß seine Tiefenangst eingestehen können. Hätte er ihr oder seinem Stellvertreter oder seiner Sekretärin, hätte er irgendjemandem seine Schwäche anvertraut, er läge nicht hier. Niemals wären die Kollegen auf die Idee gekommen, als Geburtstagsüberraschung für ihn ein Boot zu chartern, hätten sie von seinem Problem gewusst. Die Schuld lag nicht allein bei ihr.
Isabel seufzte. Wirre Gedanken schwirrten weiter durch ihre Sinne. Wieder vernahm sie die leise Stimme der Frau am zweiten Bett: »Fünf Tage ist das erst her. Das ist noch keine Zeit. Das Schicksal spielt manchmal ganz anders, als das medizinische Personal denkt.« Um Isabel zu trösten, fügte sie an: »Der Mensch denkt, und Gott schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.«
Ein Lächeln umspielte Isabels Mund, als sie sich der Frau zuwandte. Sie schätzte ihr Alter um die 50 Jahre. Sie saß am Bett eines Mannes, so viel konnte Isabel trotz des Kopfverbands erkennen. Auch er hing an mehreren Kabeln und Schläuchen, auch er bewegte sich nicht. Isabel sagte: »Danke. Hoffentlich haben Sie recht. Und Sie … warum sind Sie hier?«
»Mein Sohn hatte einen Motorradunfall. Er liegt schon seit drei Wochen im Koma«, schniefte die Frau. »Aber ich geb die Hoffnung nicht auf. Ich vertraue auf Gott und bete jeden Tag.«
Isabel betrachtete den bandagierten Kopf. Nur die Monitore mit ihren verschiedenen Kurven und das regelmäßige Fiepen zeigten an, dass der Mann lebte. Sie ist voller Gottvertrauen, so wie meine Mutter, erinnerte sich Isabel. Diese Zuversicht hatte ihrer Mutter geholfen, hatte sie manche Stürme des Lebens überstehen lassen. Nur über den Tod ihres Mannes, Isabels Vater, hatte ihr Glaube sie nicht hinwegtrösten können.
Isabel