Seerausch. Marlies Grötzinger
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Kapitel 5
Mit dem ersten Klingelton des Weckers stand Isabel am nächsten Morgen auf, ging ins Bad, wusch sich und schlüpfte rasch in ihre Kleider. Sie beeilte sich, denn sie befürchtete selbst, dass sie es sich anders überlegen könnte. Statt zum Dienst zu gehen, könnte sie sich weiterhin mit der Bettdecke über dem Kopf verkriechen und von der Außenwelt abschirmen, um nichts sehen und nichts hören zu müssen und bestenfalls nichts fühlen zu müssen. Doch diesen Impulsen wollte Isabel nicht länger nachgeben. Mit aller Willenskraft wollte sie versuchen, zu sich selbst zurückzufinden, und die Rückkehr an ihren Arbeitsplatz würde ihr Halt geben. Sie verließ hastig die Wohnung, ohne Thomas zu wecken und ohne sich von ihm zu verabschieden. Als er nach stundenlanger Lektüre am späten Abend ins Schlafzimmer geschlichen kam, hatte sie sich schlafend gestellt, um dem Gute-Nacht-Kuss zu entgehen.
Als Isabel ihr Fahrrad aufschließen wollte, bemerkte sie, dass sie ihren Schlüsselbund vergessen hatte. Mist, dachte sie, aber nochmals nach oben gehen, kommt nicht infrage. Dann werde ich heute eben den Bus nehmen. Und schon lief sie die wenigen Meter zur Haltestelle.
Von den Menschen, die an den wenigen Stationen bis zur Dienststelle ein- und ausstiegen, nahm Isabel keine Notiz, ebenso wenig von den vorbeiziehenden Gebäuden. Ihre Gedanken kreisten um das bevorstehende Wiedersehen mit den Kollegen. Wie würden sie ihr gegenübertreten? Hatte doch deren übermütiges Schaukeln das Schiff in extreme Schieflage und letztendlich zum Kentern gebracht – und damit Carl Dangelmann und sie in Lebensgefahr. Erneut bildete sich auf Isabels Haut eine Gänsehaut, als sie an die schrecklichen Minuten unter Wasser zurückdachte.
Mit gemischten Gefühlen schritt sie durch die zu dieser morgendlichen Stunde fast menschenleere Fußgängerzone auf das Gebäude der Wasserschutzpolizeistation Friedrichshafen zu. Als sie den See erblickte, hoben sich ihre Mundwinkel zu einem leisen Lächeln. Sie kniff die Augen zusammen, denn die Wasserfläche glitzerte bereits im Sonnenlicht. Vor den Thurgauer Bergen am Ufer gegenüber zog noch der morgendliche Dunst sein hellgraues Band.
Es kam Isabel vor, als wären Wochen vergangen, seit sie zum letzten Mal hier gewesen war. Dabei lagen nur wenige Tage dazwischen. Und erst fünf Monate war es her, seit sie zum ersten Mal vor der blauen Metalltür stand, um ihren Dienst anzutreten. Damals pochte ihr Herzen vor Aufregung und Freude mindestens so heftig wie jetzt. Doch nun mischten sich Scham, Furcht und das schlechte Gewissen. Dieser Gefühlscocktail drohte von ihr Besitz zu ergreifen, ihr wurde übel. Sie holte tief Luft und zwang sich, an die positiven Seiten der Entwicklung zu denken: Mein Traum hat sich erfüllt, ich bin von Tübingen zur Wasserschutzpolizei an den Bodensee versetzt worden. Ich liebe meine Arbeit. Doch so vieles hat sich seither verändert und mein Leben durcheinandergewirbelt.
Da auch der Schlüssel zu dieser Tür in der Wohnung lag, musste Isabel wie an ihrem ersten Tag den Klingelknopf drücken. Sie hielt den Atem an. Wie damals öffnete ihr auch heute Frieder Kahle. Isabel mochte den dienstältesten Kollegen, hatte ihn vom ersten Arbeitstag an besonders ins Herz geschlossen, weil er sie an ihren verstorbenen Vater erinnerte. Frieder Kahle blieb verdutzt stehen, als er Isabel sah, und sein ohnehin gerötetes Gesicht legte noch an Farbe zu. Keine humorvolle Begrüßung, wie sonst üblich, kam aus seinem Mund. Nur ein einziges Wort presste er zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor: »Entschuldige.« Und schon eilte er mit gesenktem Kopf an ihr vorbei.
Isabel spürte, wie sehr Frieder sich Vorwürfe machte für das, was passiert war. Aber auch Isabel schämte sich, und ihre Wangen wurden heiß. Frieder, ebenso wie alle anderen, wussten nun von ihrem Verhältnis mit dem Chef. Bestimmt hatte es sich auch bei den Kollegen der anderen Schicht und in den weiteren Dienststellen wie ein Lauffeuer verbreitet. Da gab es nichts mehr zu beschönigen, gar nichts. Bei Frieder war es Isabel besonders peinlich, obwohl er selbst gern den Voyeur und Filou gab und kein Unschuldslamm war. Das hatte sie bei manchen Einsätzen mit ihm erlebt. Boote, auf denen sich Pärchen im Adams- beziehungsweise Evaskostüm sonnten, überprüfte er besonders gern und intensiv.
Frieder und die anderen Kollegen hatten von ihrem ersten Tag an über den enormen Verschleiß des Chefs an schönen Frauen gelästert. Sie hätte gewarnt sein müssen, doch sie hatte immer nur lächelnd zugehört. Und dann war auch sie dem Charme von Carl W. Dangelmann und seiner unfassbar erotisch-männlichen Ausstrahlung erlegen. Die dunkle Seite seines Charakters und sein übersteigertes Selbstbewusstsein, ja seinen Narzissmus, hatte sie am eigenen Leib erst zu spüren bekommen, als es zu spät war. Im Gegensatz zu den meisten Kollegen, insbesondere dem jungen Timo Fessele, hatte Carl sich ihr gegenüber nämlich lange Zeit nicht herablassend, gemein und jähzornig verhalten.
Isabel zog energisch den Haargummi fester um ihren Pferdeschwanz. Jetzt gab es nur eines: Sie musste dazu stehen, was sie getan hatte, schließlich war sie erwachsen. Worauf sie sich eingelassen hatte, konnte nicht mehr rückgängig und ungeschehen gemacht werden. Sei stark, bleib ruhig, hämmerte sie sich mit jeder Treppenstufe ein, die sie auf dem Weg zu ihrem Büro nahm.
Oben angekommen, wurde ihre gerade beschworene Selbstsicherheit sogleich auf die Probe gestellt. Im Flur kam ihr Timo entgegen. Ihn hatte das Geschehen besonders getroffen. Er mochte Isabel sehr, war sogar heftig verliebt in sie. Isabel mochte Timo auch, wenngleich sie für ihn nur kollegiale Gefühle empfand. Bisher hatte sie seine unbeholfenen Annäherungsversuche eher amüsiert registriert und ihm nie irgendwelche Hoffnungen gemacht. Timo war überhaupt nicht ihr Typ. Und Timo wiederum war viel zu schüchtern und hatte sich nie getraut, Isabel seine Liebe zu gestehen. Erst am Tag des Unglücks war seine Hoffnung, die schöne Kollegin für sich gewinnen zu können, bis in die Grundfesten erschüttert worden. Timos Augen flackerten, als er nun Isabel erblickte, und seine helle Gesichtshaut färbte sich dunkelrot bis zum Ansatz seiner blonden Stoppelhaare. »Hey, Isabel. Wieder an Bord«, presste er hervor. Dann senkte auch er seinen Kopf und drückte sich an ihr vorbei in sein Büro.
Obwohl Isabel gar nicht nach Späßen zumute war, rief sie ihm nach: »Aye, aye, Käpt’n.« Die Seemannssprache war ihr einfach über die Lippen gerutscht. Sie dachte: Armer Kerl, für dich muss eine Welt zusammengebrochen sein. Isabel wünschte, sie hätte Timo nicht auf diese Art das Herz brechen müssen. Ausgerechnet mit dem ihm so verhassten Chef, von dem er sich auch im Dienst ständig demütigen lassen musste.
Vor ihrem Zimmer hob Isabel den Kopf, zerrte nochmals ihren Haargummi zurecht, drückte die Türklinke und ging entschlossen hinein. Ihr Kollege Markus Proll saß hinter seinem Computer, vor sich einen Berg von Papieren, den Kopf in die Hände gestützt.
Seit der Polizeidirektor im Krankenhaus war, wusste er oft nicht, wo ihm der Kopf stand. Er musste, zusätzlich zu seiner Arbeit, stellvertretend die Dienststelle der Wasserschutzpolizei Friedrichshafen leiten, zu der auch der Polizeiposten im 15 Kilometer entfernten Langenargen gehörte. Als nun Isabel das gemeinsame Zimmer betrat, blickte Markus auf. Er erhob sich sofort, kam ohne ein Wort auf sie zu und nahm sie einfach in die Arme. Dann sagte er: »Ich freue mich, dass du wieder da bist, Isabel. Und es tut mir so leid, dass das passiert ist.«
Isabel merkte, wie sich ihr Körper bis hinauf zum Nacken versteifte. Sie schluckte die Erinnerung, die erneut hochkommen wollte, hinunter. Da Isabel nichts sagte, versuchte Markus, sich unbeholfen zu rechtfertigen: »Die Kollegen brachten das Boot so leichtsinnig zum Schaukeln, die beugten sich so weit über die Reling, um einen Blick auf euch da unten erhaschen zu können. Du hättest ihre zotigen Witze hören sollen … Ich dachte, wenn ich Gas gebe, kommen die zur Vernunft und hören auf, aber das war offensichtlich das Verkehrteste, was ich tun konnte …«
Bei seinen Worten erfasste Isabel ein Schaudern. Offensichtlich hatte sie sich doch zu viel zugemutet. Markus bemerkte es und drückte sie noch fester an sich.
»Danke