Seerausch. Marlies Grötzinger

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Seerausch - Marlies Grötzinger

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sah sie Isabel an. »Am liebsten würde ich mit dir allein weiterfeiern. Mit dir durch Klubs und Kneipen ziehen wie früher. Auch mir gehen die Mädels heut irgendwie auf die Nerven.«

      Erleichtert atmete Isabel auf, schlang ihre Arme um Lena und sagte: »Ich melde mich wieder. Und entschuldige bitte die Unruhe und den Aufruhr, die ich in deine Bude gebracht habe. Ich wollte wirklich nicht so viel Aufmerksamkeit auf mich ziehen, wo doch heute dein Geburtstag ist. Und natürlich nochmals danke für alles, Lena.«

      Als Isabel vor die Tür trat, nahm sie erst mal einen tiefen Atemzug, presste die Luft hörbar aus und hob prüfend die Hand. Von den Bäumen und Dächern tropfte zwar noch das Wasser, aber der Regen hatte aufgehört. Sie blickte auf die Uhr. Ihr blieb genügend Zeit bis zur Abfahrt des nächsten Katamarans. Sie schlenderte durch die Gassen der Altstadt Richtung Hafen und fand sich plötzlich vor dem Konzilsgebäude wieder. Hier, wo vor 600 Jahren Kardinäle einen neuen Papst gewählt hatten, der die Spaltung der abendländischen Christenheit beenden sollte, hatte vor einem Vierteljahr die Affäre mit Carl begonnen. Geschickt hatte er den gemeinsamen Ausflug nach Konstanz eingefädelt. Er hatte darauf bestanden, dass sie ihn zu einer Tagung begleitete, und auf dem Nachhauseweg war es dann geschehen. Eine heiße Welle durchflutete Isabels Körper. Die Erinnerung an die wilden Minuten zwischen den Rebstöcken loderte auf in ihr. Würde Carl inzwischen reagieren, wenn sie ihn ansprechen oder berühren würde, fragte sie sich, als sie sich der Seeseite des massiven Gebäudes näherte.

      Auf der Terrasse wischten korrekt gekleidete Kellner bereits Tische und Stühle für kommende Gäste trocken. Isabel blieb stehen, ließ den Blick schweifen und fixierte dann die »Imperia«, die sich langsam um die eigene Achse drehte. Schon interessant, dass die spärlich bekleidete Schöne auf der ältesten Pegelmessstation Baden-Württembergs steht und dort auch heute noch der Konstanzer Pegel gemessen wird, den wir Wasserschützer täglich verfolgen, dachte Isabel. Der Künstler Peter Lenk hat nicht gegeizt und sie mit weiblicher Sinnlichkeit überreich ausgestattet. Gerade zeigte die knapp zehn Meter hohe Statue Isabel ihren üppigen Betonbusen, und sie erinnerte sich, wie völlig nüchtern und offensichtlich unbeeindruckt von ihren Reizen Thomas ihr das neue Wahrzeichen der Stadt erklärt hatte: »Die weibliche Figur mit der Narrenkappe soll eine Kurtisane darstellen und eine satirische Anspielung auf das Konstanzer Konzil sein«, dozierte er damals. »Imperia war die Geliebte von weltlichen und kirchlichen Würdenträgern. Die zwei nackten Winzlinge, die sie auf ihren Händen trägt, stellen Papst und Kaiser dar.«

      Seinerzeit hatte Isabel ihm scherzhaft geraten, statt Philosoph lieber Stadtführer zu werden. Denn der belesene Thomas wusste außerdem, dass der Bildhauer die Gestalt nach einem literarischen Vorbild seines Lieblingsdichters Balzac geschaffen hatte. Balzacs Roman »La belle Imperia« erzählte von einer Kurtisane, die während des Konzils als mächtige Geliebte triebgesteuerte Würdenträger um den Finger gewickelt und zu lächerlichen Witzfiguren degradiert hatte. Isabel war beeindruckt, hatte sich seine Sätze eingeprägt und später Lena erzählt. Köstlich amüsiert hatten sie sich damals.

      Während Isabel wieder fasziniert die Drehbewegung der neun Meter hohen Edelprostituierten verfolgte, holte sie sich die Symbolik erneut ins Gedächtnis. Mächtige Männer als lächerliche Zwerge, vollständig ausgeliefert ihren Trieben, Spielbälle in den Händen einer Frau. Maßlos übertrieben dargestellt zwar, und doch könnte ein wahrer Kern darin stecken: Die Frau ist es, die groß und stark und souverän und mächtig ist, sie beherrscht ihre Libido. Darüber lohnte es sich nachzudenken …

      Bevor Isabel sich abwandte, um zur Anlegestelle des Katamarans zu gehen, zwinkerte sie der Imperia verschwörerisch zu: Die Frau ist die Siegerin, die Meisterin ihrer Triebe. Du machst mir Mut, du Wundersame. Auch ich kann wieder zur Herrin meines Schicksals werden.

      Kapitel 7

      »Die Presseleute haken nach, die geben sich nicht so einfach zufrieden!« Mit diesen Worten stürmte Markus zur Tür herein und knallte ein Bündel Papiere auf den Schreibtisch. Dann marschierte er zum Fenster, riss einen Flügel auf und atmete ein paarmal tief durch. Seit der Polizeidirektor im Krankenhaus lag, belasteten ihn die Chefsachen zusätzlich. Außerdem machten die Kollegen der Kripo Druck. Sie hatten jeden, der mit auf dem Boot war, ein weiteres Mal einzeln befragt. Und jetzt auch noch die Presseanfragen …

      Isabels Finger, die gerade noch über die Tasten ihres Computers geflogen waren, um ein Protokoll zu tippen, hielten inne. Sie hob den Kopf, presste die Lippen zusammen und schaute ihren Kollegen ratlos an.

      Markus schloss das Fenster wieder und verschwand hinter seinem Bildschirm. Er schob sich eine Handvoll Nüsse in den Mund und sagte: »Die wittern nun wohl doch die Story und wollen ein großes Ding draus machen. Das hat mir gerade noch gefehlt!«

      »Mal ganz ehrlich, es ist ja auch nicht alltäglich, und die Häfler freuen sich eben über außergewöhnliche News. Dann können sie sich an den Stammtischen wieder ihre Mäuler zerreißen. Außerdem sind unsere Freunde von der Presse ja nicht blöd. Es ist nun mal nicht sehr wahrscheinlich, dass so ein großes Motorboot bei ruhigem See einfach untergeht. Du würdest an ihrer Stelle auch stutzig werden«, mutmaßte Isabel.

      »Wahrscheinlich hast du recht«, stimmte Markus ihr kauend zu und strich sich mit der Hand über seinen Dreitagebart. »Und so ein kleines Skandälchen ist doch immer gut. Wenn ich wenigstens CaWe fragen könnte, wie er die Sache handhaben würde.« Er beobachtete Isabel, die zusammengezuckt war, als sie den Namen hörte, und fügte hinzu: »Bisher haben unsere Kollegen dichtgehalten, keiner ist ausgeschert. An denen knabbert das eigene schlechte Gewissen.«

      Die hätten erst recht mit Konsequenzen zu rechnen. Wenn die nicht nachgeholfen hätten, wäre das Boot nicht gekippt und vollgelaufen, dachte Isabel, und schlagartig wurde ihr auch bewusst: Wenn Carl nicht bald aufwachte oder wenn ihm gesundheitliche Beeinträchtigungen blieben, konnte die Sache schlimm ausgehen für die Kollegen. Das wäre gravierender und nachhaltiger als ein Verhältnis des in der Stadt bekannten und angesehenen Polizeidirektors mit einer Untergebenen. Doch sie verkniff sich ihren Kommentar und nickte nur.

      In diesem Augenblick betrat Timo das Büro. Das Gesicht des jungen Kollegen war puterrot bis unter die blonden Haarspitzen. In einer Hand hielt er mehrere Blätter Papier und wedelte damit vor Markus’ Kopf herum. »Habt ihr schon gesehen, im Internet kursieren wilde Spekulationen über den Unfallhergang!«, stieß er hervor.

      Aha, daher wehte der Wind! Wahrscheinlich ist das der Grund, warum die Presse den Fall nochmals aufgreifen will, schoss es Markus durch den Sinn. Missmutig brummte er: »Will ich gar nicht wissen.«

      Timo schob ihm die Papiere trotzdem zu, zeigte mit dem Finger auf eine Stelle, die er bereits gelb markiert hatte, und zitierte: »Da steht: Ich frage mich, wie man so einen Kahn umschmeißen kann. Kann mir nicht vorstellen, dass es nur an der falschen Belastung lag.«

      »Ich will’s nicht hören!«, betonte Markus noch einmal einen Ton schärfer als zuvor. Doch Timo war nicht zu bremsen: »Und hier: An diesem Tag hatten wir ruhiges Wetter und so gut wie keine Wellen. Da ist was oberfaul …«

      Isabel erhob sich und ging vor ihrem Schreibtisch auf und ab, dass ihr Pferdeschwanz im Takt ihrer Schritte von einer Seite auf die andere wippte. In ihrem Bauch krampfte sich etwas zusammen, und unwillkürlich legte sie eine Hand auf den Gürtel. Mit klopfendem Herzen verfolgte sie den Disput der Kollegen.

      »Hör endlich auf, ich gebe nichts auf den Scheiß! Und siehst du nicht, wie Isabel leidet?«, fuhr Markus Timo an und fegte mit einer schnellen Handbewegung die Blätter vom Tisch.

      Timo erschrak. Jähzorn und Wutausbrüche kannte er von Carl W. Dangelmann und litt unter ihnen mehr als jeder andere hier. Dienstgruppenleiter Markus Proll dagegen hatte er bisher als ausgeglichen und freundlich erlebt. Änderte sich das Verhalten mit der Funktion? Dann wollte er nie Chef werden.

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