Seerausch. Marlies Grötzinger

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Seerausch - Marlies Grötzinger

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und drückt den Eingang weiter auf. Innerhalb weniger Minuten füllt sich der Raum mit dem kalten Nass. Wieder stößt die Frau einen Schrei aus, blickt zu dem Mann. Gerade eben war er ihr noch ganz nahe gewesen. Er sitzt da wie versteinert und starrt sie aus weit aufgerissenen Augen an, großen blauen Panikaugen. »Carl«, schreit die Frau, »komm! Wir müssen hier raus!« Er rührt sich nicht. Sie will nur noch weg. Weg von ihm, weg aus diesem engen Raum, raus aus den Wassermassen. Die haben ihren Busen erreicht. Fasziniert beobachtet sie für einen kurzen Moment ihre erregten Brustwarzen. Das Wasser hebt beide Brüste hoch, sie schwimmen. Das Wasser reicht dem Mann jetzt bis zum Hals, drückt seinen Körper hoch. Die Frau weiß, sie müssen raus, sofort. Der Mann? Immer noch regungslos. Seine Augen sind in dunklen Löchern versunken. Sie erschaudert. Also doch! Tiefenangst! Von ihm kann sie keine Unterstützung erwarten. Sie atmet schwer, schaut sich um, wuchtet den Feuerlöscher aus seiner Halterung, schlägt mit ihm gegen die Fensterscheibe. Wieder und wieder haut sie gegen das Glas. Endlich zerbirst die Scheibe. Glassplitter trudeln in Zeitlupe in die Tiefe. Die Reste bricht die Frau mit bloßer Hand aus. Sie hievt sich mit ihren Armen hoch, will durch das Loch nach oben, wendet sich nochmals um, dem Mann zu. Sie schreit noch einmal: »Carl! Komm!« Seine Augen – ein einziger stummer Hilferuf. Die Frau lässt sich wieder hinunterfallen, schwimmt zurück zu ihm, packt den Mann am Oberarm. Er versucht, sich mit einem Schlag aus dem Griff zu befreien, trifft ins Leere. Der zweite Hieb trifft die Frau an der Brust. Sie wehrt sich, nimmt ihn in den Schwitzkasten, schiebt seinen Körper nach oben und drückt ihn durch die Öffnung. Quält sich anschließend selbst durch. Messerscharfe Glassplitter, in der Fassung verblieben, schneiden in ihre Haut. Endlich draußen. Der Mann entgleitet ihr. Sie öffnet ihre Lippen, schreit, doch das Wasser erstickt jeden Laut, dringt in ihren Mund. Sie kämpft sich an die Oberfläche, schreit weiter …

      Als der Schrei an Isabels Ohr drang, wachte sie schweißgebadet auf. Sie schlug sich die Hände vors feuchte Gesicht. Dann rieb sie sich die Augen und schob die Haarsträhnen zurück, die auf Stirn, Wangen und Hals klebten. Tränen liefen über ihre Wangen. Es war nur ein Traum. Gottlob auch diesmal nur der Albtraum, der sie seit dem Unglück immer wieder heimsuchte. Isabel setzte sich halb auf und betrachtete den schlafenden Thomas neben ihr. Er schlief den Schlaf des Gerechten. Ach, Thomas, wenn du wüsstest …

      Noch benommen, erhob sich Isabel und taumelte ins Bad. Sie stützte die Arme auf das Waschbecken, betrachtete im fahlen Schein der Straßenlampe ihr Gesicht und stieß einen Seufzer aus. Sie tappte in die Küche, griff sich ein Glas, das neben der Spüle stand, öffnete den Wasserhahn und zuckte zusammen, als der Strahl mit großem Druck die Stille des Raums durchbrach. Einem Reflex folgend, drückte sie den Hahn schnell wieder zu. Mit dem halbvollen Glas stellte sie sich vor das Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Wann würde das endlich aufhören? Sie leerte das Glas in einem Zug, schlich zurück ins Schlafzimmer und stieg wieder in ihr Bett. Verfolgt von den Bildern im Kopf, wälzte sie sich hin und her, bis sie erneut in einen unruhigen Schlaf fiel.

      Isabel wusste nicht, wie viele Stunden inzwischen vergangen waren, als sie durch ein Geräusch hochschreckte. Ihr Handy klingelte. Sie griff zum Nachttisch und tippte den Punkt auf dem Display an. Markus Proll, der Kollege, mit dem Isabel das Dienstzimmer in der Station der Wasserschutzpolizei ebenso teilte wie die Vorliebe für Studentenfutter, meldete sich und fragte besorgt: »Wie geht’s unserem Küken heute?«

      »Hallo, Markus, geht so, ist noch flügellahm«, hauchte Isabel ins Telefon und ließ sich zurück ins Bett fallen.

      »Kann ich etwas Gutes tun für dich, Isabel?«, fragte er. »Kann ich dir ein paar Äpfelchen bringen? Ich habe geerntet, und die schmecken super gut. Du weißt ja: An apple a day keeps the doctor away!«

      »Alles Fake«, flüsterte Isabel und seufzte. »Du willst also wissen, wann ich wiederkomme?«

      »Bingo, liebe Kollegin! Dein Scharfsinn ist ungebrochen!«, stellte Markus zufrieden fest. »Also, wann stehst du wieder auf der Matte, ähm, auf der Wache?«

      Ein kleines Lächeln umspielte Isabels Mund. Mit einem Mal merkte sie, dass ihr der Kollege fehlte, seine ehrliche, direkte und unkomplizierte Art, die neckenden Gespräche voll Leichtigkeit und schlichtem Humor. Und auch ihre Arbeit bei der Wasserschutzpolizei vermisste sie. Noch etwas verschlafen stammelte sie: »Du, ich weiß nicht, kann dir nichts versprechen. Ich komme, sobald ich kann.«

      »Versprochen? Wir brauchen dich hier!«, appellierte er, um Isabel aus ihrer Lethargie zu kippen.

      »Versprochen!« Isabel legte das Handy zurück. Jetzt erst beachtete sie den Zettel auf dem Nachttisch mit Thomas’ ebenmäßiger Handschrift: ›Bin in der Uni Konstanz. Seminartag. Bis später. Thomas.‹

      Isabel fiel erneut in die Kissen und starrte minutenlang an die Decke. Dann gab sie sich einen Ruck: Genug gelitten, das Leben muss weitergehen, hämmerte sie sich ein. Ich werde jetzt das Bett verlassen. Jetzt sofort! Sie warf die Bettdecke zurück, schwang sich auf, setzte einen Fuß nach dem anderen auf den Boden, wollte sich hochstemmen, ein Gedankenblitz ließ sie auf die Bettkante zurücksinken. Sie überlegte. Sie musste Carl sehen, würde mit dem Zug nach Allensbach fahren. Ja, genau das würde sie tun, und zwar so schnell wie möglich. Sie griff nochmals nach ihrem Handy und suchte auf der Homepage nach Verbindungen. Es gab mehrere. Wenn sie sich beeilte, könnte sie den nächsten Zug erreichen.

      Entschlossen erhob sie sich und zog den Rollladen hoch. Sie kniff die Augen zusammen, das gleißende Licht der Sommersonne schmerzte. Sie widerstand dem kurzen Impuls, die Augen wieder zu schließen und sich erneut auf das Bett zu werfen. Stattdessen tappte sie ins Bad, zog ihren Schlafanzug aus, warf ihn über den Rand der Badewanne. Diesmal lass ich mich nicht unterkriegen, sagte sie sich und stellte sich in die Duschkabine, ließ das Wasser laufen. In dem Moment, als das Nass auf Isabel niederprasselte, überfiel sie ein Schwindelgefühl und ihr Körper fing zu beben an. Mit zitternder Hand gelang es ihr, den Hebel zurückzuschieben, bevor sie an den Fliesen hinunter auf den Boden rutschte. Sie hörte ihr Herz gegen ihre Rippen hämmern. Wasser, diese Kraft, das Rauschen … wieder flogen Erinnerungen an ihrem inneren Auge vorbei und drohten ihr Hirn zu sprengen. Wasser, strömendes Wasser … wieder so unerträglich wie damals …

      Isabel wollte fliehen, musste raus aus dieser Enge. Sie zog sich an den Armaturen hoch, kletterte mühsam aus der Duschkabine und ließ sich auf den Teppich sinken. So blieb sie liegen, bis Gänsehaut ihren ganzen Körper bedeckte und sie fröstelte. Dann setzte sie sich halb auf, griff nach einem Handtuch und frottierte ihre Haut, bis sie warm und gerötet war. Nackt ließ sich Isabel auf dem Rand der Badewanne nieder, atmete Sekunden, Minuten, ohne jedes Zeitgefühl, immer regelmäßiger. Als sie sich erholt hatte, formte ihr Gehirn erste klare Gedanken: Es gab kein Zurück mehr, nur das Vorwärts zählte. Mechanisch griff Isabel zum Waschlappen, mit dem festen Willen, sich den Schweiß der vergangenen Tage und auch die quälenden Schuldgefühle abzuwaschen. Wenn duschen nicht möglich ist, dann eben anders, dachte sie und richtete sich auf. Sie befeuchtete den Frotteehandschuh, gab Seife darauf und wusch sich von Kopf bis Fuß. Anschließend putzte sie sich die Zähne, bürstete ihre Locken, schlüpfte in Jeans, T-Shirt und Sandalen, schnappte ihren Rucksack und verließ auf wackeligen Beinen die Wohnung.

      Kapitel 2

      Draußen vor der Tür hob Isabel ihr Gesicht der Sonne entgegen. Für einen Moment schloss sie die lichtentwöhnten Augen. Amseln zwitscherten in den Ästen der Buche über ihr und auch das Motorengeräusch eines Rasenmähers drang an ihr Ohr. Sie breitete ihre Arme aus und sog die Morgenluft tief in ihre Lunge. Eine Nachbarin blickte verwundert zu ihr herüber. Sie wässerte gerade mit dem Gartenschlauch die Salatpflanzen in ihren Beeten. Gebannt blickte Isabel auf den Wasserstrahl, hielt kurz die Luft an, verdrängte die Erinnerung und lief los in Richtung Bahnhof. Sie beobachtete Spatzen, die sich um Brotkrümel stritten, die zwischen den Tischchen des Stehimbisses auf dem Gehweg lagen. Die Autoschlange kämpfte sich lärmend und stinkend durch die Straßen wie eh und je. Die Menschen eilten hektisch wie immer vorbei, ohne Isabel

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