Seerausch. Marlies Grötzinger
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Die Frau griff mit ihren beiden Händen nach Isabels Hand, hielt sie fest umklammert und sah flehend zu ihr auf: »Ja, gell, der liebe Gott kann mir meinen Rolf doch nicht einfach nehmen. Das darf er doch nicht!«
Isabel war von dem Kontakt zu überrascht, um etwas sagen zu können. Es war das erste Mal seit Tagen, dass sie die Haut eines anderen Menschen berührte. Sie lächelte der Frau zu und schüttelte nur den Kopf. Dann entzog sie der Frau ihre Hand, trat ein paar Schritte zurück und stellte sich wieder an Carls Bett, diesmal an das Fußende. Von dieser Position aus erschien sein Antlitz noch schmaler und farbloser. Aus dem weißen Laken stachen die schwarzen Nasenlöcher mit den Schläuchen furchterregend hervor. Mit einem Mal glaubte Isabel, keine Luft mehr zu bekommen, überhaupt nicht mehr atmen zu können in dem Zimmer. Sie schnappte ihren Rucksack, warf nochmals einen Blick auf die Frau und verließ mit schnellen Schritten den Raum. Möglichst rasch wollte sie alles hinter sich lassen: Carl und die Klinik und Allensbach und ihre Vergangenheit …
Schon lief Isabel wieder auf die Glastür zu, die die Intensivstation von dem langen Flur trennte. Diesmal öffnete sich die Tür nicht automatisch wie beim Eintreten, und Isabel stieß mit dem Kopf gegen das Glas. Ein leises »Aua!« kam ihr über die Lippen und sie drückte eine Hand gegen die schmerzende Stirn. Wie soll ich bloß hinauskommen? Mit Grausen dachte sie daran, hier drinnen eingesperrt zu sein. Da entdeckte sie an der Wand auf der rechten Seite einen Türöffner. Sie drückte ihn, doch nichts geschah, der Ausgang blieb verschlossen. Jetzt erst bemerkte Isabel unter dem Türöffner ein Kästchen mit Zahlen und Zeichen. Die Tür war also mit einem Code gesichert. Während sie noch ratlos die Nummern fixierte, näherte sich auf der anderen Seite ein junger Mann. Die Tür öffnete sich. Er kam herein und nickte Isabel freundlich zu. Sie nutzte blitzschnell die Chance, um hinauszuhuschen und die Station zu verlassen.
Geschafft! Draußen atmete sie erst einmal tief ein, hielt den Atem an, um anschließend lange auszuatmen. Kurz blickte sie zurück und eilte dann den Flur entlang zum Ausgang. Beinahe hätte sie den Karren einer Raumpflegerin umgestoßen, und erst als Isabel im Freien war, stoppte sie. Voller Dankbarkeit streckte sie das Gesicht der Sonne entgegen. Sie schloss die Augen und sog die warme, klare Luft ein. Ein blumiger Duft strömte in ihre Nase und belebte ihre Sinne. Sie, Isabel, atmete aus eigener Kraft. Sie konnte gehen, sich bewegen, rennen, denken, sprechen, fühlen, konnte essen, riechen, hören, sehen … Isabel öffnete die Augen wieder, nahm endlich die Blumenpracht um sich herum wahr. Sie sah den Bienen, Hummeln und Wespen zu, die sich an den bunten Blüten labten. Sie genoss das laue Lüftchen, das über ihr Gesicht strich und die Blätter der exakt zurechtgeschnittenen Bäume rascheln ließ. Sie lebte. Sie durfte die Schönheit um sich herum wahrnehmen. Sie hatte die Chance, noch einmal ganz neu anzufangen, sie konnte in ein neues Leben starten. Dieses Bewusstsein beflügelte Isabel, gab ihr neue Kraft und neuen Mut. Sie spürte ihren wiedererwachten Lebenswillen in jede Zelle ihres Körpers vordringen. Doch zuallererst wollte sie eines: ihre Freundin Lena treffen, und zwar sofort. Nichts liegt näher, als gleich ins nahe Konstanz zu fahren, dachte sie.
Kapitel 4
Isabel saß im Bus von Allensbach nach Konstanz und blickte über den See, der zu ihrer Rechten vorbeizog. Das große Wasser machte ihr nicht mehr Angst, vielmehr sorgte die natürliche Weite dafür, dass ihr Innerstes sich beruhigen und ihr Herz wieder weit werden konnte.
Am Abend nach dem Unglück war Isabel nicht zu Thomas nach Hause gegangen. Entgegen dem Rat der Rettungssanitäter, sich im Krankenhaus untersuchen zu lassen, hatte sie, durcheinander wie sie war, die Katamaranfähre bestiegen und war von Friedrichshafen nach Konstanz zu ihrer Freundin gefahren. Im Nachhinein wunderte sie sich selbst, dass sie damals ein Boot ohne Hemmungen hatte besteigen können. Später war ihr klar geworden, dass sie zu der Zeit in völligem Schockzustand funktionierte. Panik und Angstzustände kamen erst hinterher.
Lena hatte sie aufgenommen, ohne lange zu fragen, und zu Bett gebracht. Thomas hatte sie nur eine kurze Nachricht über WhatsApp geschickt. Eine Nacht und einen halben Tag lang hatte die Freundin bei ihr ausgeharrt, ihr zugehört, sie in den Arm genommen und erst losgelassen, als die Weinkrämpfe aufgehört und die Tränen versiegt waren. Lena, die ohnehin von der Affäre mit Carl wusste, hatte Isabel alles erzählen können. Nur ihr. Am nächsten Tag hatte Lena sie nach Friedrichshafen zurückgebracht und dem völlig ahnungslosen Thomas übergeben.
Lena staunte, als Isabel nun unangemeldet in ihrer Praxis auftauchte: »Du bist wieder auf den Beinen? Und hier in Konstanz? Warum hast du nicht gesagt, dass du kommst?«, begrüßte sie die Freundin.
»Hab mich ganz spontan entschlossen. Hast du überhaupt Zeit?«, fragte Isabel.
»Bald. Lass dich erst mal umarmen.« Dicht an Isabels Ohr flüsterte Lena: »Ich bin gerade mitten in einem Patientengespräch. Wenn das Telefonat beendet ist, haben wir Zeit, bis ich Ben aus der Kita holen muss.« Sagte es und schielte hinüber in ihr Behandlungszimmer. Dann drückte sie die Freundin von sich und fügte hinzu: »Setz dich einen Moment und nimm dir was zu trinken.« Damit verschwand Lena noch einmal im Zimmer nebenan.
Was würde ich bloß machen ohne Lena, dachte Isabel in einem Anflug von Verzweiflung. Sie kannte Lena länger als jeden anderen Menschen auf der Welt – abgesehen von ihrer Schwester Katharina, die allerdings vor Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte. Ihrer Schwester war Isabels Beamtendasein zu spießig. Sie wusste nicht einmal, wo Katharina sich gerade aufhielt, ob sie noch studierte oder ins Berufsleben eingetreten war. Und doch verdankte Isabel ihrer Schwester, dass sie seinerzeit Thomas kennengelernt hatte, als sie Katharina in Freiburg besucht hatte.
Bis Isabel bei Thomas eingezogen war, hatte sie in Tübingen lange Zeit eine Wohnung mit Lena geteilt. Obwohl Lena einige Jahre älter war – in wenigen Tagen erreichte sie das Schwabenalter – verband sie eine innige Freundschaft. Diese Verbindung war so stark, dass sie auch die räumliche Distanz, die durch Lenas Umzug nach Konstanz entstand, unbeschadet überdauert hatte. Lena war ihr vorausgeeilt: Sie hatte die berufliche Chance, in Konstanz in eine Praxis von Psychotherapeuten einzusteigen, auch genutzt, um sich in aller Freundschaft vom Vater ihres Sohnes Ben zu trennen. Damit hatte Lena geschafft, was sie selbst bis zum heutigen Tag nicht hinbekam: Mutig hatte sie diese Entscheidung getroffen, und dafür bewunderte Isabel sie. Ben war, neben Lenas Berufstätigkeit und Isabels Schichtdienst, der Grund, warum sie sich nicht mehr wie früher einfach mal spontan trafen und sich gemeinsam eine Nacht um die Ohren schlugen.
Isabel hatte jahrelang die Praxisräume nicht mehr betreten und schaute sich um. Den Ficus benjamini kannte sie schon aus Tübingen. Seine Blätter streiften inzwischen die Zimmerdecke. Bilder mit Sinnsprüchen und Alltagsweisheiten an den hellgelb gestrichenen Wänden verliehen dem Wartezimmer wohltuende Wärme. Isabel ging von einer Tafel zur anderen und überflog die Zeilen: ›Probleme, die man konsequent ignoriert, verschwinden nur, um Verstärkung zu holen‹, stand da neben einem Vogel Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckte. Aha, dachte Isabel und las den nächsten Text, bei dem der Betrachter durch ein Schlüsselloch schaute: ›Halte durch, liebes Herz. Es regelt sich gerade alles neu.‹ Isabel schmunzelte und dachte: Wenn es damit getan wäre … Ihre Augen wanderten weiter. Mitten in einem roten Herz stand: ›Mach es dir zur Aufgabe, dich gut um dich selbst zu kümmern.‹ Das hörte sich alles richtig an, wenn es doch auch so einfach einzuhalten wäre …
Isabel setzte sich mit einem Seufzer auf einen Stuhl und kramte die Zeitung aus ihrem Rucksack, die sie im Zug eingesteckt hatte. Ein weiteres Mal überflog sie die Zeilen, und wieder beschleunigte sich ihr Herzschlag merklich:
… Zwei Personen – dem Vernehmen nach ein Mann und eine Frau – hatten sich unter Deck befunden. Sie mussten Fensterscheiben zertrümmern, um sich aus dem sinkenden Schiff zu befreien. Einer der beiden Personen gelang es nicht, aus eigener Kraft an die Oberfläche zu schwimmen. Sie wurde mit in die Tiefe gerissen, konnte aber …